Schwarz
völlig vergessen, dass er Birou jeden Tag eine Zusammenfassung schicken musste, und gestern hatte er es völlig verschwitzt. Er holte seinen Laptop aus der Tasche und schrieb einen langen Bericht über die Begegnungen am Donnerstag.
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Gilbert Birou fiel es leicht, den Höhepunkt der laufenden Woche zu benennen, er wurde ihm im Restaurant gerade serviert: Lamm mit Frühlingszwiebeln auf Pfefferminzsauce. Selbst er konnte es sich nicht leisten, jeden Abend in einem Restaurant auf diesem Niveau zu speisen, das »Steirereck« besaß immerhin zwei Michelin-Sterne. Er lockerte seine Krawatte ein wenig, schob die Cartier-Brille zurecht und schaute aus dem Fenster in Richtung Wiener Stadtpark. Der Rotwein, ein Schöneberger, schmeckte vorzüglich. Birou stellte wieder einmal zufrieden fest, dass er sich weit genug von der Bretagne, vom armseligen Dorf Penmarch und von den täglichen Fisch- und Kartoffelgerichten entfernt hatte.
Dieser Freitag hatte gleich erfreulich begonnen: Die Videobesprechung am Morgen, an der das Trio teilnahm, das die Dimensionen des Raketenanschlags kannte, also er, die Chefjuristin Ronibala Kumari und der Generalsekretär, war geruhsam verlaufen. Ihm hatte man nur die Hauptverantwortung für die Vereinheitlichung der Evakuierungsmaßnahmen in den europäischen Standorten der UN übertragen, was keinen besonderen Aufwand erforderlich machte, da es in allen UN-Einrichtungen einen Katastrophenschutzbeauftragten gab, der auch dafür zuständig war, Pläne für den Evakuierungsfall auszuarbeiten. Also konnten seine Mitarbeiter diese Angelegenheit schnell erledigen.
Der absolute Höhepunkt des Tages, was seine Arbeit betraf, war jedoch ein Bericht, den er am Morgen in der UNO-City auf seinem Schreibtisch vorgefunden hatte. Darin gab der sudanesische Oberst Abu Baabas an, dass nur ein paar Stunden nach der Ermordung des Witwenmachers Ruslan Sokolow dreißigtausend Euro auf Leo Karas Konto bei einer britischen Bank überwiesen wurden. Und außerdem hatte man Haare von Kara da gefunden, wo er nach eigener Aussage nie gewesen war – in Ewan Taylors Wohnung. Birou hatte den Bericht von Baabas erst einmal in seinem Tresor auf Eis gelegt. Es sah so aus, als könnten die sudanesischen Mordermittlungen ihm doch helfen, den Störenfried und Erpresser Kara loszuwerden. Die Informationen würde er zum geeigneten Zeitpunkt der Rechtsabteilung der UN zukommen lassen.
Sofort nach der Lektüre von Baabas’ Bericht hatte Birou Maßnahmen ergriffen, um Kara aus dem UNODC zu vergraulen. Der polnische Polizeichef der UN-Operation im Sudan, Zbigniew Górski, musste zum Schweigen gebracht werden, dieser lästige Detektiv tat so, als wisse er, dass Kara nichts mit dem Mord an Ewan Taylor zu tun hatte. Birou nahm sich vor, Górski irgendwohin zu versetzen, wo er alle Hände voll zu tun hatte und sich nicht mehr mit Leo Karas Streichen befassen konnte. Was lag wohl weiter weg von Wien, Haiti oder Timor?
Birou dachte gar nicht daran, sich über Kara zu ärgern, obwohl der gestern seinen Bericht vergessen hatte. Der Entschluss, Kara aus dem UNODC hinauszubefördern, gab ihm die nötige Gelassenheit. Und heute hatte Kara immerhin eine relativ ausführliche Zusammenfassung der Situation in Finnland geschickt. Überraschenderweise hatte er das eine oder andere Interessante in Erfahrung gebracht. Endlich war der Mann mal zu etwas nütze. Birou beabsichtigte, die Informationen, die Kara ausgegraben hatte, dem UN-Generalsekre tär zu übermitteln. Und das Beste von allem war, dass sich Kara in Finnland befand, weit weg von ihm.
Das Dessert wurde aufgetragen – marinierte Wassermelone auf Johannisbeersauce. Birou fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr. Wenn das Leben doch ewig so weitergehen könnte, in Überfluss und Beständigkeit … Die Balance zwischen Arbeitsumfang,Vergünstigungen und Verantwortung empfand er als vollkommen, er hatte es leicht und bekam viel. Ihm stand der Sinn nicht nach Beförderungen oder Titeln, und er strebte nicht danach, irgendetwas anderes zu erreichen, im Gegenteil. Er wollte einfach nur sein Amt genießen, das objektiv gesehen eigentlich außerhalb seiner Möglichkeiten gelegen hatte. Gilbert Birou hielt sich für einen glücklichen Menschen.
13
Sonnabend, 2. Mai
Der Morgen war angenehm warm, Leo Kara hatte so gut und lange geschlafen wie seit Wochen nicht, nach einem kräftigen Frühstück fühlte er sich gut gesättigt, und die verletzte Hand schmerzte nicht mehr.
Der Verkehr
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