Schwarzbuch Bundeswehr - Überfordert, demoralisiert, im Stich gelassen -
Schuldfrage bei den Vorfällen von Kundus zu untersuchen – und die Ergebnisse dann auch zu veröffentlichen –, verschanzen sich Politiker weiterhin hinter legalistischen Winkelzügen. Die drei für das Desaster beim Tanklasterbombardement Verantwortlichen gibt es zwar nicht mehr in öffentlichen Ämtern, trotzdem: Bis heute sind die wesentlichen Tatsachen und Hintergründe des Vorfalls unaufgeklärt oder zumindest nicht öffentlich:
• Gab es nun zu beklagende Opfer unter der Zivilbevölkerung, und wenn ja, wie viele? Stimmt die anfangs in den Medien genannte Zahl 142, oder ist die Zahl des bremischen Rechtsanwalts von 179 die richtige, oder entsprechen die 66 Opfer, für die Deutschland eine Unterstützungszahlung geleistet hat, der Realität – oder waren alle Opfer Taliban, und der Militärschlag war lediglich die grausame Wirklichkeit eines jeden Krieges?
• Welche Stellen hielten – schon vor der Bundestagswahl – Informationen zurück oder machten wissentlich ungenaue, ungenügende oder falsche Aussagen?
• Inwieweit kannten auch andere Stellen (Minister anderer Ressorts, die Bundeskanzlerin, Mitglieder im Verteidigungsausschuss) die Hintergründe und verschweigen sie eventuell bis heute vor der Öffentlichkeit?
• Was ist denn nun eigentlich vorgefallen? Was sind die Tatsachen, wie sieht die Realität aus?
• Warum besteht so wenig Aufklärungswille bei den Verantwortlichen, selbst nach mehr als einem Jahr; schließlich geht es um Menschenleben – die Leben von Soldaten und die Leben von Unbeteiligten?
Am Beispiel Kundus entsteht mehr als nur der Anschein, dass in der Bundeswehr viele eigene Süppchen gekocht werden, statt Ursachenforschung zu betreiben, die herausgefundenen Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und die ungeteilte Wahrheit dann auch zu kommunizieren. Manche Führungspersonen scheinen bei ihrem Vorgehen das ungenießbarste Süppchen zu kochen, denn sie gehen dabei buchstäblich über Leichen – zumindest über politische Leichen. Am Beispiel Kundus zeigt sich aber auch, wie groß der Einfluss von Intrigantentum und Machtgehabe in den oberen Etagen der Bundeswehr ist. Addiert man dann parteitaktische Winkelzüge und Vertuschungsversuche auf der politischen Ebene hinzu, bleibt einem bei militärischen und politischen Verlautbarungen zum Thema Kundus nur die Erkenntnis von Goethes Faust: »Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.«
5. Die Bundeswehr und ihre Defizite
Diagnose: nicht einsatzbereit
Vor vierzig Jahren hat Der Spiegel mit einem Bericht über die mangelhafte Ausrüstung der Bundeswehr Aufsehen erregt. »Bedingt abwehrbereit«, titelte das Magazin damals. Und es ging ein Aufschrei durch Politik und Gesellschaft. Die Verantwortlichen in Bonn und Berlin hatten vier Jahrzehnte Zeit, die Defizite unserer Armee in den Griff zu bekommen. Doch auch heute noch gilt: Die Bundeswehr ist in ihrem aktuellen Zustand nicht einsatzbereit. Trotzdem wird sie von den politisch Verantwortlichen in Einsätze geschickt, obwohl auch durch den Bericht des Wehrbeauftragten seit Jahren bekannt ist, dass der Zustand bei Ausrüstung, Ausbildung und Betreuung der Soldaten nur als katastrophale und lebensgefährliche Mangelsituation bezeichnet werden kann. Infolge der zahllosen Fehlentscheidungen und dauerhaft ungenügenden Finanzmitteln ist eine untragbare Situation entstanden, die in krassem Gegensatz zu einer modernen Einsatzarmee steht.
5.1 Der Bericht des Wehrbeauftragten
Das Amt des Wehrbeauftragten, seine genaue Bezeichnung lautet »Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages«, gibt es seit dem Jahr 1956. Gemäß Grundgesetz unterstützt er die Abgeordneten bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr. Wenn ihm Umstände bekannt werden, die auf eine Verletzung der Grundrechte von Soldaten oder der Grundsätze der »Inneren Führung« hindeuten, wird er tätig. Eine offizielle Definition der »Inneren Führung« gibt es nicht, jedoch findet sich in der Zentralen Dienstvorschrift der Bundeswehr (ZDv 10/1) eine Beschreibung. Hier werden ihre Ziele, Grundsätze, Anwendungsbereiche und Leitsätze festgehalten. Durch sie sollen die Spannungen gemildert werden, die sich aus den individuellen Rechten des freien Bürgers einerseits und den militärischen Pflichten des Soldaten andererseits ergeben können. So hat das Prinzip der »Inneren Führung« seine Wurzeln im Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und beschreibt im Grunde die komplexe
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