Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung
kurzfristig – das Ansehen der Kirche zu schützen.
Die fundierten Presseberichte, für die die Reporter von Boston Globe später den renommierten Pulitzer-Preis erhielten, schufen die Grundlage für eine sehr intensive Wahrnehmung des Skandals in der Öffentlichkeit. Überall meldeten sich jetzt neue Opfer, nicht nur in der Erzdiözese Boston, sondern im ganzen Land. Hunderte von Geistlichen wurden als Täter bekannt. Die Zahl der Strafprozesse gegen Priester nahm zu, aber auch die der Zivilklagen auf Schadensersatz gegen Bistümer und Ordensgemeinschaften, hier traf es zunächst vor allem die Jesuiten. Die ursprünglich einmal im Jahr 1985 geschätzte Schadenshöhe von einer Milliarde Dollar war schon 2002 überschritten worden. Genaue Zahlen über die bis heute angefallenen Summen liegen nicht vor, aber allein im Jahr 2007 zahlten katholische Institutionen in den USA 615 Millionen Dollar an Geschädigte und ihre Rechtsanwälte.
Kleinere Bistümer gerieten bei Beträgen in dieser Größenordnung schnell an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit, und zwischen 2004 und 2009 mussten das Erzbistum Portland und sechs weitere Diözesen Bankrott anmelden. Dies bedeutet konkret, dass sie ihr Vermögen verkaufen müssen, um mit den Gläubigern Zwangsvergleiche finanzieren zu können. Das Bistum Davenport im Staat Iowa zum Beispiel ist mit 104 000 Gläubigen ein sehr kleines Bistum, doch es muss 156 Opfer entschädigen, die von vier Priestern zwischen 1960 und 1983 missbraucht worden waren. Die 37 Millionen Dollar dafür konnten jedoch nicht aufgetrieben werden. Am 10 . Oktober 2006 , zwei Tage ehe der neue Bischof Martin Amos berufen wurde, war die Diözese pleite. Bischof Amos musste sich eine Mietwohnung suchen, denn das bistumseigene Bischofswohnhaus wurde zwangsweise verkauft, wie auch das große Ordinariatsgebäude und weitere Immobilien. 22 Millionen Dollar sind zusätzlich an Spenden zu beschaffen, bis Mitte 2010 hatten die Katholiken in Davenport 12 Millionen davon geschafft; es wird noch Jahre dauern, bis wieder normale finanzielle Verhältnisse in der Diözese einkehren werden. Der finanzielle Schaden der klerikalen Verbrechen ist leicht in Zahlen auszudrücken, vergessen wir aber darüber nicht das Leid, die seelischen Qualen der nach Tausenden zählenden Opfer, denen nicht nur die Kindheit gestohlen wurde, sondern deren Leben mit einer verbrecherischen Hypothek belastet ist. Ihr Vertrauen in die Kirche, oft auch ihr Glaube, ist dahin. Aber nicht nur das der direkten Opfer, auch das Vertrauen der Eltern, der Personen ihres privaten Umfelds, der Pfarrangehörigen, ja schließlich das Vertrauen aller Katholiken in ihre Kirche ist einer schweren Belastung unterworfen.
Erst auf ihrer Versammlung im Sommer 2002 in Dallas, Texas behandelten die Mitglieder der US -Bischofskonferenz das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Priester mit dem notwendigen Nachdruck: siebzehn Jahre nach dem Zeitpunkt, an dem man schon hätte handeln können und hätte handeln müssen! Die Bischöfe beauftragten das angesehene John-Jay-Institut für Kriminalwissenschaften der staatlichen Universität von New York City mit der Erstellung eines Berichtes. Dieser Bericht, bekannt als »John-Jay-Report«, wurde schon 2004 veröffentlicht und fasste die bekanntgewordenen Fälle zunächst statistisch zusammen. Die Untersuchung betraf den Zeitraum von 1950 bis 2002 , es wurden Anzeigen gegen 4392 Priester erfasst, allerdings waren davon schon etwa 3300 Priester verstorben, gegen die keine weiteren strafrechtlichen Maßnahmen eingeleitet werden konnten. In 1021 Fällen trat die Staatsanwaltschaft in Aktion und erwirkte in 384 davon eine strafrechtliche Verurteilung des pädokriminellen Priesters. Die meisten Opfer, über 80 Prozent, waren Jungen, davon etwa 22 Prozent zehn Jahre alt oder jünger, 51 Prozent zwischen elf und vierzehn Jahren. 59 Prozent der Täter waren nur mit einem Fall bekannt geworden, dagegen erwiesen sich knapp 15 Prozent als Intensivtäter, die jeweils mehr als zehn Opfer geschädigt hatten. Es zeigte sich auch, dass die bekannt gewordenen Taten innerhalb des Untersuchungszeitraums nicht gleichmäßig verteilt waren. Die Zahlen stiegen Ende der sechziger Jahre an und erreichten ihren Höhepunkt in den siebziger Jahren. Dann fielen sie deutlich ab und lagen am Ende des Untersuchungszeitraumes wieder auf dem niedrigen Niveau der fünfziger Jahre. Was könnten die Gründe für diesen erstaunlichen
Weitere Kostenlose Bücher