Schwarze Heimkehr
Sonnenlicht durch die getönten Scheiben eingeströmt wäre, hätte das ihren Farbsinn beeinträchtigt.
Mrs. Leyes kam aus dem Nachbarhaus, und Sonia beugte sich vor, um mit ihr über den Stromausfall zu schimpfen. Estrella Leyes, eine Paraguayanerin aus dem Bergland, reichte ihr eine in Aluminiumfolie eingewickelte Kasserolle. .
»Für Nestor.« Sie küßte Sonia herzlich auf beide Wangen. Weil Estrellas einzige Tochter bereits vor langer Zeit fortgezogen war, hatte sie sich daran gewöhnt, Sonia als Ersatz zu betrachten. »Geht’s ihm besser?« fragte sie hoffnungsvoll.
»Leider nicht.« Sonia packte den Haartrockner weg.
»Sie sollten dafür sorgen, daß er mich besucht«, sagte Mrs. Leyes.
Sonia lächelte und tätschelte den Arm der älteren Frau. »Ich würde es tun, aber er ist an dem Punkt angelangt, wo er das Haus nicht mehr verlassen kann.«
»
Ay, pobre!
Dann sollte ich ihn besuchen.«
»Das wäre nett«, sagte Sonia. »Aber ich weiß nicht, was für einen Nutzen das haben sollte. Nestor stirbt.«
Von ihrem Haus in El Portal mußte Sonia nicht länger als zwölf Minuten nach Süden zu ihrem Arbeitsplatz fahren, aber an drei Tagen der Woche machte sie einen Umweg, um nach ihrem Freund zu sehen. Nestor war Tänzer von Beruf gewesen, ein junger Mann mit einem wundervollen, geschmeidigen Körper. Seine Arbeit war himmlisch gewesen, so daß es eine doppelte Schande war, daß er an Aids starb. Sie brachte ihm häufig selbstgekochtes Essen, und wenn sie zuviel Arbeit hatte, kaufte sie etwas in einem thailändischen Restaurant, das auf dem Weg lag. Nestor liebte die thailändische Küche und hatte für Estrellas Ziegenkasserolle nicht allzuviel übrig, aber Sonia war weise genug, der älteren Frau das nicht zu erzählen.
Heute lag Nestor mit dem Gesicht zur Wand in seinem Bett. Die Bettlaken waren in einem fürchterlichen Zustand, und sie verbrachte vierzig Minuten damit, ihn zu waschen. Er war nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten, und so rezitierte sie Gedichte von Rudyard Kipling, während sie arbeitete. Sie hatte sie ihm so oft vorgelesen, daß sie sie auswendig wußte. Er liebte die präzisen Kadenzen, die Kiplings Geist, der ganz dem neunzehnten Jahrhundert verhaftet war, hervorgebracht hatte, und sprach auf Kiplings tiefgründigen Sinn für Geheimnisvolles und auf das an, was der Dichter an den exotischen Plätzen empfunden haben mußte, die er bereist hatte.
Es brach ihr das Herz, Nestor wieder allein lassen zu müssen, aber sie konnte nichts mehr für ihn tun, und sie war ohnehin schon spät dran für ihre Arbeit.
Das zweistöckige, dattelpflaumenfarbene Gebäude der Lord Constantine Fine Imports lag an der Vierzigsten Straße im Design District von Miami. Es gab einen Innenhof mit einem Tor, in dem Palmen und Hibiskusbäume wuchsen.
Sie betrat das Büro und lief zu ihrem Schreibtisch. Sonia war einer von drei Geschäftspartnern und mit dem Ankauf bei lateinamerikanischen und mexikanischen Exportfirmen betraut, von denen die Firma drei Viertel der Luxusmöbel und Accessoires bezog, mit denen sie handelte. Folglich hatte Sonia eine beunruhigende Zahl dringender Telefongespräche zu führen. Sie war so beschäftigt, daß sie keine Zeit fand, ihre Sekretärin nach den Terminen für den Nachmittag zu fragen. Sonia liebte es, ihren besten Dekorateuren die richtigen Möbel vorstellen zu können.
Um halb eins, als ihr Magen wie ein Löwe zur Fütterungszeit zu knurren begann, steckte ihre Sekretärin Carol den Kopf durch die Tür.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie, »aber gerade haben die Elektrizitätswerke angerufen. Hat es bei Ihnen einen Stromausfall gegeben?«
Sonia nickte. Sie überlegte immer noch, ob sie Ellen Wright, mit der sie den ersten Termin vereinbart hatte, den präkolumbianischen Kopf zeigen sollte, der gerade eingetroffen war. »Heute morgen.«
»Die Elektriker müssen in Ihre Wohnung.«
»Okay, vereinbaren sie einen Termin für ….«
»Sie sagen, es muß sofort sein.« Das sommersprossige Gesicht der Sekretärin drückte Bedauern aus. »Es scheint einen schweren Schaden gegeben zu haben, der irgend etwas mit den Gasleitungen zu tun hat. Die Sache kann nicht warten.«
Sonia fluchte mit angehaltenem Atem. Damit war der Nachmittag gelaufen. »Okay. Sagen sie ihnen, daß ich sofort komme. Ach, Carol, sagen sie bitte Mrs. Wright ab und werfen sie dann einen Blick in meinen Terminkalender. Ich werde sie telefonisch auf dem laufenden halten, sobald ich weiß, wie lange ich
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