Schwarze Küsse
Tiere, alle kommen und gehen sie, Hand in Hand, spielen Verfolgungsjagd und beißen ins Gras. Weißt du, wann sie ins Gras beißen? Wenn sie vergessen, dass über allem der Krake herrscht. Früher oder später erwischt es sie alle. Dann lassen sie sich das Gesicht operieren, fliehen ans Ende der Welt. Es nützt ihnen nichts. Der Krake findet dich, wo auch immer du dich versteckst, denn seine Tentakel sind lang. Es nützt auch nichts, den Witzbold zu spielen, den Unterwürfigen, den Sympathischen. Man muss geschickt sein, und skrupellos. Wenn du überleben willst, halte dich an mich, ich werde dein Führer durch die Hölle sein. Nimm Charlie beispielsweise, er ist dazu verdammt, in den Hintern getreten zu werden. Ich bin ihm gerne behilflich, solange seine Schwester lieb zu mir ist. Aber da ist nichts zu machen. Charlie kennt den Kraken nicht. Kennst du ihn? Kenne ich ihn? Das ist das Spiel, Gil Baleares, man muss den Kraken kennen.« Er begann, mit hoher, weiblicher Stimme zu singen: »Der Krake, der Krake, der Krake soll dich holen, oh ja, oh ja!« Er versuchte, mir in den Hintern zu kneifen, aber ich drehte mich mit dem Rücken zur Wand.
Als er endlich genug davon hatte, herumzualbern und sich lustig zu machen, schnalzte er mit der Zunge und machte sich mit einem grausamen Lachen aus dem Staub.
Unterdessen sang Judith unter der Dusche ihr Lied von der zerstörten Liebe.
D as Treppenhaus kam mir vor wie der Schlund eines alten Wolfes. Zumindest stank es wie ein Tier mit Karies. Judiths Stimme explodierte in meinem Kopf, ich hatte sie zu viele Stunden reden hören. Mittlerweile konnte ich mich als Experte in Sachen Damenunterwäsche betrachten und wusste genau, wie man als Mann sein Glied zwischen den Beinen versteckt. Aber ich hatte Judith kein einziges Wort über Roberto Oviedo alias Maika sagen hören.
Ich hatte also immer noch keine heiße Spur, nur das immer deutlicher werdende Gefühl, die Marionette von Wintilo Izquierdo und Aníbal Carcaño zu sein. Am besten ich gewöhnte mich an den Gedanken, dass Efrén nur ein Toter ohne Vergangenheit und Identität war. Menschlicher Abfall, ein Kadaver, etwas, das bald wieder aus meinem Gedächtnis verschwinden würde, so hart die Fotos von seinem zerstochenen Leichnam auch gewesen waren. Und die treffendste Definition von Benjamín Sánchez war vielleicht wirklich die von Wintilo. Dass er nur Mittel zum Zweck war, ein Sack, den man von hier nach da schleifen und herumbugsieren konnte.
Der bestmögliche Ausgang der Geschichte war wohl, wenn ich Roberto fand und es seinem Vater überließ, mit ihm zu tun, was seine göttliche Weisheit ihm eingab. So wie Gott mit Abraham und Isaak. Er konnte ihn töten, ihm verzeihen, ihn außer Landes bringen oder den unartigen kleinen Mörder einfach nur ohne seine Milch ins Bett schicken.
Aber mein Hirn spuckte weiter Fragen aus.
Wer hat Efrén getötet? Roberto? Jenes andere Subjekt, das die beiden im Hotel heimgesucht hat? Benjamín? Judith? Und das Wichtigste: Würde ich weiter für die Kriminalpolizei arbeiten wollen, wenn ich das Knäuel erst einmal entwirrt hatte? Würde Carcaño zu seinem Wort stehen und mir meinen Vater zurückbringen?
Der Mensch gewöhnt sich daran, dreimal am Tag zu essen, und das kann die Würde des anständigsten Mannes gefährden. Für die Kriminalpolizei zu arbeiten, konnte also für einige Jahre meine Zukunft sein, die schreckliche Zukunft, die der kleine Saúl mit seinen hellseherischen, weisen Kinderaugen vorhergesehen hatte.
Plötzlich hörte ich ein Schluchzen, und mein Magen verkrampfte sich. Ich ging die Treppe weiter hoch, und da sah ich sie in einer Ecke kauern, den Kopf zwischen den Beinen versteckt. Sie trug das hellgrüne Kleid. Als sie den Kopf hob, war ihr Blick voller Traurigkeit, und auch ein wenig Hoffnung.
»Ich liebe dich, Gil Baleares. Ich bin verloren.«
Wir gingen hinein. Die Strecke zum Bett war lang, und ich kostete sie voll aus, indem ich sie mit Küssen übersäte. Hastig zogen wir uns aus und legten uns hin. Ich fuhr mit den Fingern über ihre Haut, als liebkoste ich die Saiten einer spanischen Gitarre (falls man Gitarren wirklich auf diese Weise liebkost, seien sie nun spanisch oder texanisch). Dabei entlockte ich ihrer Haut zwar keine Musik, aber sie erschauderte mehrmals, vielleicht in d-Moll. Ich habe nicht die geringste Ahnung von Musik, aber mir kam es vor, als sei es eine schwermütige, faszinierende Tonart, die Schauder über ihre Haut
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