Schwarze Küsse
Jahr ausgestanden hatte. Mein leeres Bankkonto. Die Geschwindigkeit, mit der mir das Geld durch die Finger rann. Die Beklemmung, die mich nachts weckte, wenn mir mein rasendes Herz panikverseuchtes Blut ins Gehirn trieb. All die Zukunftsfragen. Mit welchem Geld würde ich meinen Vater bestatten? Von was würde ich im Alter leben? Wie sollte mich eine Tochter respektieren, für deren Unterhalt ich nicht aufkommen konnte? War es nicht gerecht, dass meine Frau mich sitzen gelassen hatte, weil ich noch nicht einmal meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen konnte?
Diese Fragen trugen jedoch nicht dazu bei, dass ich meiner neuen Arbeit größere Wertschätzung entgegenbrachte, und das gab mir das ungute Gefühl, ein komischer Kauz zu sein. Ob mit oder ohne Arbeit, ich war nicht glücklich – falls Glück überhaupt ein Faktor ist, den man berücksichtigen muss.
Aber ich würde weitermachen, aus Trägheit, für die Tochter und vielleicht auch für die Rotznase Saúl, nicht etwa, weil ich die Verantwortung für ihn übernehmen wollte, sondern um seiner Mutter die drei Sekunden peinlichen Schweigens zu ersparen, wenn ihr Sohn die unausweichliche Frage stellte: Und mein Vater, was hat er so gemacht im Leben?
Das klang nach beschissener Telenovela, nach einer Seifenoper über alles, was einem das Leben zu bieten hat.
Ich ging zur nächsten Straßenecke, wo die Fußgängerampel gerade auf Grün sprang. Als die Sirene einer Polizeistreife ertönte, beschloss ich zu warten, bis sie vorbeigefahren war. Sie hielt direkt vor meiner Nase. Ich konnte es nicht glauben: wieder diese offene Tür, wieder Wintilo, der dahinter in seinem Auto wartete.
Hindernisse missachtend und Fußgänger beiseitescheuchend, durchquerten wir die Stadt, aber es löste diesmal kein erregendes Gefühl in mir aus. Es bedeutete nichts mehr, dass der Verkehr sich angesichts der Blaulichter und des wilden Geheuls der Staatsgewalt in Luft auflöste. So ist das mit der Macht bei Idioten wie mir, sie langweilt uns schnell. Eine kleine Kostprobe genügt vollkommen.
Wir fuhren nach Polanco. Einige Straßen vor unserem Ziel stellte der Fahrer die Sirene ab. Wir schlichen uns an wie die Katze an den Vogel und hielten schließlich vor einem luxuriösen Bürogebäude mit Spiegelfenstern. Wintilo stieg aus seinem Auto, ich aus dem Streifenwagen.
»Carcaño will dich sehen«, sagte er ernst.
»Und deshalb die Eskorte?«
»Das mit dem Teniente machen wir danach. Wir sind wegen etwas anderem hier. Erinnerst du dich, dass ich sagte, wir würden Benjamín noch einmal befragen? Das haben wir gestern Nacht getan …«
Ich schwieg und machte mich auf das Schlimmste gefasst.
»Er gab zu, den eifersüchtigen Liebhaber von Roberto zu kennen, den, den er in die Eier gebissen hat. Er heißt Rosendo Galindo und ist Anwalt. Seine Kanzlei ist in diesem Gebäude. Also werden wir mal schauen, ob er uns verrät, wo sich sein kleiner Stricher aufhält.«
Wintilo gab dem Polizisten, der im Streifenwagen geblieben war, einen Befehl: »Lass niemanden aus dem Gebäude, bevor er sich nicht identifiziert hat. Und wenn ein Rosendo Galindo dabei ist, schleifst du ihn an den Haaren in den verdammten Streifenwagen und wartest, bis wir wieder da sind, verstanden?«
Der Polizist nickte ausdruckslos.
Der Concierge des Gebäudes schien auf unseren Besuch vorbereitet zu sein und machte keine Anstalten, uns aufzuhalten.
Im Aufzug sagte Wintilo: »Lass dir endlich mal die Haare schneiden, du siehst aus wie ein kleiner Junge …«
Ich warf einen Blick in den Spiegel. Meine Haare waren nicht lang, aber vielleicht ein wenig ungekämmt.
Im achten Stock ging die Tür auf, und wir betraten die Kanzlei. Eine Sekretärin hob den Blick und sah uns entgegen, aber Wintilo bedeutete ihr mit einer Handbewegung, dass sie sich ruhig verhalten solle. Auch sie schien Komplizin unseres Besuchs zu sein. Wir gingen weiter bis zu einer Tür.
Wintilo klopfte leise.
»Señor Galindo?«
Keine Antwort.
»Kriminalpolizei.«
Stille.
Vorsichtig öffnete Wintilo die Tür. Auf dem Schreibtisch lag mit dem Gesicht nach unten ein Typ im Anzug, dessen Hände auf komplizierte Weise mit der eigenen Krawatte gefesselt waren, die er noch um den Hals trug. Seine Hose war ihm bis auf die Knöchel heruntergezogen worden. Der Hintern ragte nackt in die Höhe und war mit schwarzem Lippenstift beschmiert, während der Rücken zerstochen war wie der Körper von Efrén. Vom Kopf des Mannes schlängelte sich eine Blutspur bis zum
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