Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
darauf durfte sie nicht hoffen. Sie taugte nicht zu einer Ehefrau, denn sie empfand tiefste Lust, wenn sie mit ihm allein war. Sie würde also als seine Geliebte mit ihm reisen. Grace hatte nur zu recht gehabt.
Aber da war noch etwas, das ihr nicht behagte. Er wollte „die Vergangenheit vergessen“ und „einen neuen Anfang wagen“. Das las sich auf den ersten Blick sehr schön – aber konnte ein Mensch überhaupt neu anfangen, wenn die Vergangenheit noch auf ihm lastete? Würde er sie, Violet, wirklich lieben können, wenn Clarissas Schatten noch auf ihm lag? Weshalb bat er sie, zum Beispiel, das Haus nicht zu verlassen? Aus Eifersucht natürlich. Diese sinnlose, unbegründete Eifersucht rührte aus seiner Vergangenheit her, und sie würde sie ihm erst ausreden können, wenn sie mit ihm endlich über Clarissa gesprochen hatte.
Niemand kam in den Speiseraum, um das Geschirr abzuräumen, denn das Personal war eifrig damit beschäftigt, das Reisegepäck zu richten. Als Violet durch die Halle ging, lief Charles mit einem Korb voller Schuhe und Stiefel an ihr vorüber, die er vor der Reise auf Hochglanz putzen wollte. Mrs. Waterbrook und Maggy waren oben beschäftigt, Kleider und Hüte zu verpacken, man hörte das aufgeregte Schwatzen des Mädchens und Mrs. Waterbrooks mürrische Antworten.
Violet überlegte sich, dass sie den Vormittag dazu nutzen würde, um Mrs. Chrestle noch einmal vorzuspielen und sich dann von ihr zu verabschieden. Der Entschluss fiel ihr nicht leicht, denn sie hatte sich im Haus der Chrestles mehr als unbehaglich gefühlt. Aber immerhin war Mrs. Chrestle sehr freundlich zu ihr gewesen und es war ihr, Violet, gelungen, die arme Lady, die ihre beiden, geliebten Kinder so früh verloren hatte, für kurze Zeit aufzuheitern. Außerdem konnte es ja sein, dass Mrs. Chrestle noch einmal von Clarissa sprechen würde.
Sie fand ihren Mantel an der Garderobe, setzte einen Hut auf und trat vor die Haustür. Das Wetter war trüb, Nieselregen hing in der Luft und auf den Straßen standen noch die Pfützen vom Vortag. Ein alter Mann kehrte den nassen, dampfenden Pferdemist zusammen, Wagen mit Fässern und Kisten rollten gemächlich vorüber, die Fuhrleute hatten die Mützen tief in die Gesichter gezogen und die Krägen ihrer Jacken hochgestellt. Zwei kleine Zeitungsjungen standen in der Regent Street vor einem Spielwarenladen und brüllten den Vorübergehenden die Schlagzeile der „Times“ zu.
„Mörder von Whitechapel immer noch nicht gefasst. Londoner Polizeichef muss sich im Oberhaus verantworten.“
Auf halbem Weg fiel ihr ein, dass sie ihre Noten vergessen hatte, und sie ärgerte sich über ihre Gedankenlosigkeit. Es war zu spät, noch einmal in die Warwick Street zurückzulaufen, denn sie wollte nicht zu lange fortbleiben. Mrs. Chrestle würde sicher nichts dagegen haben, dass sie einige leichtere Stücke auswendig spielte.
Das Haus der Chrestles wirkte im Nieselregen noch abweisender als bei Sonnenschein. Hoch und unnahbar ragte es in den grauen Himmel, der Rauch, der aus den Schornsteinen stieg, lag wie eine schmutzige, dunkle Wolke auf dem Dachstuhl. Auch heute waren die Vorhänge zugezogen, weshalb ein Fremder den Eindruck erhalten konnte, die Bewohner seien krank oder verreist.
Violet war nur noch wenige Schritte vom Hauseingang entfernt, als sie neben sich eine laute, wohlbekannte Stimme hörte.
„Violet! Endlich! Meine Güte, ich suche schon den halben Vormittag nach dir.“
Überrascht wandte sie sich um. Neben ihr hatte ein Hansom gehalten, der Kutschenschlag war geöffnet und die auffällig gekleidete Insassin war eben im Begriff auszusteigen.
„Grace!“
„Mich hast du wohl nicht erwartet, wie?“, gab Grace spitz zurück und lief auf sie zu. „Undankbare Person, du. Abgehauen bist du – ohne Abschied. Wenn ich nicht so an dir hängen würde, Mädel, ich wäre nicht durch die halbe Stadt gefahren, um dich zu finden.“
Violets Antwort wurde von Grace’ impulsiver Umarmung erstickt. Sie drückte die Freundin so heftig an sich, dass die Passanten sich kopfschüttelnd nach den beiden Frauen umsahen. Zumal Grace’ grellbunte Aufmachung deutliche Rückschlüsse auf ihren Beruf zuließ.
„Ich muss mit dir sprechen, Violet. Steig ein.“
„Aber Grace – ich bin eben im Begriff, einen Besuch zu machen und habe gar keine Zeit. Können wir nicht später …“
„Oh nein. Es geht um Leben und Tod.“
Grace war keine von der Sorte, die sich abweisen ließ, und Violet
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