Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
ausdrückte.
„Nun – auf Empfehlung von Mr. Omer hat sich inzwischen eine andere Pianistin vorgestellt, die ich engagiert habe. Sie waren gestern also zum letzten Mal hier.“
Es traf sie wie ein Schlag. Sie hatte so große Hoffnungen auf diese Chance gesetzt und nun war schon alles vorbei – sie war entlassen. Warum? Sie konnte es nur vermuten: Die Konkurrentin hatte sich Mr. Omers Wünschen offensichtlich bereitwilliger gefügt, als sie, Violet, es getan hatte.
Er zog eine Schublade auf, in der er die Kasse für das Kleingeld aufbewahrte, und zählte ihr zwei Schillinge auf den Schreibtisch.
„Wenn Sie die Summe bitte quittieren möchten, Miss Burke.“
Sie starrte auf das Geld, neben das er jetzt eine vorgedruckte Quittung gelegt hatte.
„Aber ich habe vier Stunden lang gespielt. Wir hatten einen Schilling pro Stunde ausgemacht.“
„In Anbetracht dessen, dass Beschwerden über Sie eingingen, Miss Burke, sollten Sie froh sein, überhaupt etwas zu bekommen. Sie können das Geld nehmen oder es liegen lassen – mehr wird es jedenfalls nicht werden.“
Sein schmales Gesicht hatte jetzt einen gleichmütigen Ausdruck angenommen und sie begriff, dass sie seiner Willkür völlig ausgeliefert war, denn es gab niemanden auf der Welt, der für ihre berechtigte Forderung eintreten würde. Plötzlich schoss eine namenlose Wut in ihr hoch. Sie hatte es satt, sich für einen Hungerlohn demütigen zu lassen. Dieser miese Geldsack hatte ihr nicht einmal einen Stuhl angeboten, ließ sie vor sich stehen wie eine Bittstellerin und verhöhnte sie noch dazu.
„Ich verzichte auf Ihr Almosen, Mr. Summers!“, rief sie zornig. „Verwenden Sie dieses Geld besser, um das Klavier stimmen zu lassen, es ist verdammt nötig!“
Sie genoss den Anblick seiner entgleisenden Gesichtszüge und verließ das Büro grußlos, ja, sie gönnte sich sogar das Vergnügen, die Tür hinter sich ins Schloss zu knallen. Während sie durch die Flure eilte, um den Ausgang zu suchen, spürte sie das Hochgefühl des Sieges und war für einen Moment lang wie beflügelt.
Doch kaum stand sie auf der Straße, da fiel ihre Hochstimmung schon wieder in sich zusammen. Es regnete. Der Londoner Himmel war ebenso grau wie Straßen und Häuser, schwere Tropfen ließen das letzte Laub von den Bäumen fallen und auf den Bürgersteigen hatten sich breite Pfützen gebildet. Violet, die keinen Regenschirm hatte, ging dicht an den Gebäuden entlang, versuchte ihren Rock einigermaßen vor dem Straßenschlamm zu bewahren und war ratlos, was sie nun tun sollte.
Eine Entscheidung fällen. Aber welche? Nach den schrecklichen Erkenntnissen des gestrigen Abends war sie entschlossen, auf keinen Fall länger bei Grace zu bleiben. Doch die Hoffnung, sich als Pianistin ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatte sich zerschlagen. Eine andere hatte ihre Stelle bekommen, eine jener Frauen, die bereit waren, sich für ein paar Schillinge an einen Oberkellner zu verkaufen.
Sie hatte am Morgen, bevor sie zum „Green Palace Hotel“ aufbrach, die Visitenkarte von Nicholas Marlow zu sich gesteckt.
Hundert Pfund und eine Wohnung in einem Viertel, das nahe an der City war, weit weg von den elenden, schmutzigen Gebäuden, den ärmlichen Gassen und den Prostituierten von Whitechapel. Weit weg von Grace und von der Gegend, in der der Mörder sich seine Opfer suchte.
Und wenn sie nur einfach einmal dort vorbeiging? Um sich das Haus, von dem er gesprochen hatte, wenigstens anzusehen? Sie musste ja nicht läuten, sie konnte auch wieder fortgehen, wenn es ihr nicht gefiel.
Hatte er nicht behauptet, kein Interesse an ihr persönlich zu haben?
Halbherzig lenkte sie ihre Schritte in die Regent Street, die zu dieser Zeit von Wagen und Karossen dicht befahren war. Man hatte die breite Prachtstraße als Grenze zwischen den Vierteln der Reichen und dem übrigen London angelegt – die Warwick Street befand sich zwar auf der östlichen Seite dieser Grenze – doch nur wenige Schritte davon entfernt.
Das Haus war ein Eckhaus an einer kleinen Verbindungstrasse zur Regent Street, ein dreistöckiges, ein wenig verträumt anmutendes Gebäude mit verschnörkeltem Giebeldach und kleinen, aufgesetzten Säulchen um die Fenster des ersten Stocks. Der Eingang war ebenfalls mit einem – vermutlich nachträglich erbauten – Säulenportal geschmückt und wirkte auf Violet reichlich angeberisch. Es passte zu diesem Nicholas Marlow, dass er seinem Haus eine besondere Note gab, um die eigene Bedeutung
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