Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
werden?
Resigniert stellte sie die leere Tasse zurück auf das Tablett und ging zu ihrem inzwischen recht gut gefüllten Kleiderschrank, um ihr Hauskleid herauszunehmen.
Als sie das Kleid zwischen den anderen Gewändern hervorzog, fiel ein kleiner, weißer Zettel zu Boden und sie bückte sich, um ihn aufzuheben.
Es war die Visitenkarte, die Mr. Barney ihr gestern Nachmittag in die Hand gedrückt hatte und die sie ohne weiter hinzusehen in ihre Jackentasche gesteckt hatte. Jetzt starrte sie verblüfft auf die wenigen Worte, die in geschwungenen Lettern auf dem weißen, schön gemusterten Kartonpapier aufgedruckt waren.
Robert Chrestle
London
12, Eaton Place
Sie kniff die Augen zusammen, bis die Buchstaben undeutlich wurden, doch der Name blieb unverändert. Robert Chrestle. Ratlos ließ sie die Karte sinken. Was für ein unglaublicher, sonderbarer Zufall. Gab es noch andere Chrestles in London? Oder konnte es sein, dass die nette Dame, die sie im „Green Palace“ angesprochen hatte, ausgerechnet Mrs. Chrestle gewesen war? Clarissas Mutter.
War das ein Wink des Schicksals? Sie sah auf die flimmernden Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der Vorhänge schienen und plötzlich hatte sie das Gefühl, jemand habe ihr einen kleinen Stoß in den Rücken versetzt. Sie lief auf das Fenster zu und riss die Vorhänge auf. Der Himmel über der Stadt war von einem ungewöhnlich tiefen Blau, nur ein paar kleine Schleierwölkchen schwammen weit oben vorüber, und die schrägen Strahlen der Herbstsonne ließen das noch regenfeuchte Hofpflaster glänzen.
Natürlich, sie hatte es doch längst gespürt. Hier lag die Lösung. Clarissa war der Schlüssel zu allen Geheimnissen. Sie musste versuchen, mehr über dieses unglückliche Mädchen zu erfahren und vielleicht hatte das Schicksal ihr soeben den Weg dazu geebnet.
Sie würde es herausfinden.
Sie zog ihr Ausgehkleid an, setzte den Hut auf und steckte die Karte in ihre Jackentasche. Dann wählte sie sorgfältig einige ihrer Noten aus, rollte sie zusammen und verbarg sie unter der Jacke.
„Ich gehe zu einem Arzt“, log sie Maggy unten in der Halle vor. „Aber ich werde noch vor Mittag zurück sein.“
In Maggys rundem Gesicht war echte Besorgnis zu lesen.
„Sie sind doch nicht etwa krank, Miss Burke?“
„Aber nein. Nur etwas erschöpft. Nichts Ernstes.“
„Seien Sie bloß vorsichtig, Miss Burke. Bei meiner Tante fing das auch so an und drei Tage später war sie tot.“
„Keine Sorge, Maggy. Es ist wirklich nur ganz harmlos.“
Sie hatte eine gute dreiviertel Stunde zu gehen, denn sie war immer noch völlig ohne Mittel und konnte nicht daran denken, sich einen Hansom zu mieten. Es störte sie wenig, denn das Wetter war angenehm, zwar wehte ein kühler Wind, aber die Sonne ließ vergessen, wie kalt es war. Ihre einzige Sorge war, dass es sich gar nicht um Clarissas Eltern, sondern um irgendwelche Verwandte oder einfach nur Leute gleichen Namens handeln könnte.
Sie ging in südlicher Richtung, folgte Piccadilly am Green Park entlang, und als sie Buckingham Palace Gardens erreicht hatte, war ihr vom raschen Laufen schon richtig warm geworden. Eaton Place war eine der besten Wohngegenden der Stadt. Hier gab es mehrstöckige, helle Häuser mit breiten Fassaden und Aufgängen, über denen schmuckvolle Reliefs angebracht waren. Karossen mit Adelswappen an den Türen rasselten an Violet vorbei, Gentlemen mit hohen Hüten und Spazierstöcken aus Ebenholz bewegten sich ohne Eile über die Gehwege und nahmen sich hie und da die Zeit, der hübschen, jungen Frau ein anerkennendes Lächeln zukommen zu lassen. Junge Hausdiener und adrett gekleidete Dienstmägde gingen eilig ihrer Wege und verschwanden in den Nebeneingängen der Häuser, die das Dienstpersonal zu benutzen hatte. Auch die Kinder, die die Pferdeäpfel mit Besen und Schaufel zusammenkehrten, waren lange nicht so zerlumpt und schmutzig, wie in anderen Gegenden der Stadt.
Das Haus der Chrestles lag am südlichen Ende der breiten Straße und war ganz sicher einer der prächtigsten Bauten. Dennoch befiel Violet ein seltsam beklemmendes Gefühl, als sie an der Fassade emporblickte und feststellte, dass überall die Vorhänge an den Fenstern zugezogen waren. Offensichtlich freute sich dort niemand an dem schönen, für diese trüben Herbsttage so seltenen Sonnenwetter. Das Haus wirkte trotz der hellen Steine und der hohen, weißen Fenster abweisend und schien dem Besucher mitzuteilen: Hier ist kein Eintritt
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