Schwarze Rosen
besonders draußen unter den weißen Baldachinen, wo das Orchester Erfolgsmelodien aus früheren Zeiten spielte, war es morgens einfacher. Anders an diesem Tag. Die Stadt bereitete sich auf das Fest ihres Schutzheiligen, San Giovanni Battista, vor, und zu diesem Anlass waren viele Besucher aus der Provinz und anderen toskanischen Städten herbeigeströmt.
Ein Stammgast setzte sich an einen der Tische.
Er war groß und hatte hellbraune, nackenlange, nach hinten gekämmte Haare. Eine dunkle Sonnenbrille verbarg seine Augen. Seine Gesamterscheinung war distinguiert, und sein charmantes Lächeln zog die Blicke von Frauen jeden Alters auf sich. Ein schöner Mann, kurzum. Ein Mann, der auf sich hielt.
Das Gilli war eines seiner Lieblingscafés.
Hier konnte man auch etwas Warmes zu essen bekommen und dabei die Leute beobachten, vor allem die hübschen Touristinnen, die vorbeiflanierten. In der Nacht hatte er nicht viel geschlafen, weil er ständig von Erinnerungen an die Vergangenheit geplagt worden war. Verschiedenen, immer wiederkehrenden Erinnerungen. Er war mehrmals aufgestanden, um in der Küche etwas zu trinken, hatte aber den Kloß in seinem Hals nicht herunterspülen können. Sein Verstand hatte sich immer weiter in Grübeleien verstrickt, und am Ende hatte er sich einen Espresso aufgebrüht, den Fernseher angestellt und ein wenig herumgezappt. Wiederholt hatte er sichauch die Nachrichten im Videotext angesehen, hatte die Zeilen vergrößert, zusammen- und auseinandergerückt, jedoch nichts von Interesse gefunden. Dann, nachdem er sich rasiert und geduscht hatte, war er aus dem Haus gegangen und, die Hände in den Jeanstaschen, ziellos durch die Gegend geschlendert. An den Füßen die bequemen Sportschuhe, die er am Tag zuvor gekauft hatte.
Nun bestellte er beim Kellner eine Portion Stockfisch alla Livornese, dazu Fagioli all’ uccellina – weiße Bohnen in Tomatensugo mit Salbei, eine toskanische Spezialität – und einen Weißwein, Pinot Grigio.
Beim Warten aufs Essen blätterte er mit müden Augen in der Nazione . Die Zeitung hatte er kurz vorher in der Buchhandlung Edison gekauft, wo er sich gern auch mit den neuesten Bestsellern eindeckte. Seine große Leidenschaft von Jugend an war das Lesen, und er hatte Tausende von Büchern zu Hause, darunter viele angelsächsische Thriller, die seiner Ansicht nach die besten waren, sowie zahlreiche Biografien großer Komponisten. Von Wagner besaß er außerdem sämtliche musikalischen Werke. Auch epische Gedichte fehlten nicht in seiner Sammlung, besonders die mittelalterlichen Rittererzählungen hatten es ihm angetan.
In der Zeitung fand er nichts von Bedeutung, nur die ewig gleichen, auf Agenturmeldungen beruhenden Nachrichten. Er faltete das Blatt seufzend zusammen und legte es auf einen freien Stuhl. Beim Hinüberbeugen fiel ihm die Sonnenbrille herunter, und er bückte sich schnell, um sie wieder aufzusetzen.
Inzwischen hatte sich ein Pärchen in Jeans und gleichen T-Shirts mit dem Aufdruck I love Firenze an den Nachbartisch gesetzt. Sie waren um die dreißig, hielten die ganze Zeit Händchen und blickten sich zärtlich in die Augen. Dazwischen küssten sie sich, wobei die junge Frau ihren sinnlichen Körper an den ihres Freundes schmiegte. Sie lachten und verströmten Glück aus allen Poren.
Er beobachtete die beiden eine ganze Weile. Dann bemerkte er rechts von sich eine Gruppe Japaner, die, bewaffnet mit Kameras aller Art, aus dem Hotel Savoy hervorkam. Manche trugen schon kurze Ärmel, als wäre es Hochsommer. Er musste lächeln, als sie im Gänsemarsch hinter einer jungen Frau her trotteten, die ein Pappschild in die Höhe hielt: die Touristenführerin, die ihnen gleich alles über die historischen Bauwerke erzählen würde. Die sonnenüberflutete Piazza wurde nach und nach zu einem Sammelbecken von Menschen jeglicher Couleur.
Der Kellner kam mit den Gerichten. Der Stammgast fing mit Genuss zu speisen an, es würde seine einzige Mahlzeit des Tages sein. Als er fertig war, zahlte er, ließ wie immer zehn Euro Trinkgeld auf dem Tisch liegen und spazierte nach Hause.
Ganz wie ein gewöhnlicher Tourist.
Es war mittlerweile halb drei, und die Piazza della Repubblica quoll fast über. Alle wollten den großen Umzug mit den historischen Kostümen und Fahnenschwingern sehen, der sich um Punkt vier an der Piazza Santa Maria Novella in Bewegung setzen und zur Piazza Santa Croce gehen würde.
Ein prächtiges Schauspiel.
Das sich jedes Jahr zur gleichen Zeit
Weitere Kostenlose Bücher