Schwarze Schafe in Venedig
daran, rücksichtslos ihre Privatsphäre zu verletzen.
Mein Manuskript war schnell gefunden. Um ehrlich zu sein, brauchte ich gar nicht danach zu suchen. Denn zu meiner nicht unerheblichen Enttäuschung hatte sich der bedruckte Papierstapel keinen Zentimeter vom Fleck bewegt – er lag immer noch in der Mitte des vierten Kapitels aufgeschlagen auf dem Nachttischchen.
Allem Anschein nach hatte sie es nicht für nötig befunden, morgens weiterzulesen oder das Manuskript mit in ein nettes Café zu nehmen. Nein, sie wollte stattdessen lieber in der schneidenden Kälte ziellos draußen herumstromern und mein Buch so weit wie möglich hinter sich lassen.
Zugegeben, meine Interpretation der Sachlage war fraglos ungerecht, aber ich war missmutig und reizbar, und es war besser, die Schuld für meine miese Laune jemand anderem in die Schuhe zu schieben statt mir selbst. So viel besser sogar, dass ich mich den ganzen Nachmittag lang in meine fixe Idee hineinsteigerte, die beleidigte Leberwurst zu spielen und Victoria den Schwarzen Peter zuzuschieben, und meine eingebildete Verstimmung hegte und pflegte, während ich mich den Aufzeichnungen widmete, die Graziella mir über die Sicherheitsvorkehrungen im Palazzo Borelli mitgegeben hatte. Seitenweise detaillierte Informationen, von ausführlichen Beschreibungen der Schlösser auf dem Anwesen über hingekritzelte elektrische Schaltpläne und eilig aufgemalte Lagepläne der verschiedenen Etagen bis hin zu einer Liste potentieller Ein- und Ausstiegsmöglichkeiten (einschließlich der Vorteile und Risiken der einzelnen Optionen) sowie einer Aufzählung der Haushaltsangestellten und ihrer Arbeitszeiten. Sie hatte knarzende Bodendielen und quietschende Türangeln vermerkt, angegeben, wie lange man ungefähr brauchte, um von A nach B zu gelangen, und sogar einen kurzen Essay angefügt, was ich mit den Überwachungskameras anstellen sollte. Kurz und gut, Graziella hatte weit mehr getan, als die Hütte ein bisschen auszuspionieren – sie hatte das Haus quasi seziert –, und eigentlich hätte ich wohl froh und dankbar sein sollen für ihre ausführlichen Warnungen und Hinweise. War ich aber nicht. Ganz im Gegenteil.
Um ehrlich zu sein, empfand ich ihre Anmerkungen als Beleidigung. Es wäre nett gewesen, hätte sie mich als Kollegen und Profi auf meinem Gebiet ernst genommen und mir ein bisschen mehr zugetraut. Ja, in ihren Augen hatte ich mich bisher vielleicht mehr schlecht als recht durchgemogelt, oder ihre eingehende Planung zeugte bloß vom Ernst ihrer Lage, aber in meinen Augen war ein wenig Spontaneität doch immer noch der Schlüssel zu einem wirklich großartigen Bruch. Für einen guten Einbruch braucht es Können und Geschick. Aber ein richtig großer Bruch braucht auch Flair. Die besten Diebe nennt man nicht umsonst Einbruchs künstler . Und Graziellas wissenschaftliche Herangehensweise wirkte auf mich steril und kalt.
Irgendwann packte ich die Aufzeichnungen wieder weg und fütterte meine miserable Laune mit unerfreulichen Gedanken, während ich auf zwei Beinen meines Schreibtischstuhls kippelnd darauf wartete, dass mein neues Handy klingelte. Lange Minuten schaukelte ich so vor und zurück und balancierte eine unangezündete Zigarette auf der Unterlippe, während ich mit sentimentalem Blick auf die leere Stelle an der Wand starrte, wo der Hammett-Roman sonst immer hing. Und jedes Mal, wenn ich mich in mein Schlafzimmer schlich, den schweren Alukoffer unter dem Bett hervorholte und mich fragte, ob ich die Schlösser auffummeln sollte, versetzte das meiner miserablen Laune einen ordentlichen Abwärtsschub. Ich war wirklich ziemlich gut im Eingeschnapptsein, und als ich schließlich hörte, wie Victoria die Treppe zu meiner Wohnung heraufstieg, den Schlüssel ins Schloss steckte und beim Hereinkommen ein fröhliches »Hallo!« flötete, da hatte ich mich bereits in eine veritable Stinktierlaune hineingesteigert.
Ich kniete gerade im Schlafzimmer auf dem Boden und unterzog den Aktenkoffer einer haargenauen Untersuchung. Bisher hatte ich nichts entdeckt, woran Graziella erkennen könnte, ob ich die Zahlenschlösser ausgetrickst hatte oder nicht, und so langsam ging es mir an die Nieren, nicht einfach alle Warnungen in den Wind zu schlagen und meiner unbezähmbaren Neugier nachzugeben. Als geborener Einbrecher bekommt man ein gewisses Maß an Neugier in die Wiege gelegt, und ich behaupte mit Stolz, über ein ausgeprägtes Schnüffel-Gen zu verfügen. Wäre ich rein zufällig
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