Schwarze Schafe in Venedig
tatsächlich irgendwie bekannt vorkam – sein Gesicht schien wie ein visuelles Echo auf etwas, das tief in meiner Erinnerungsdatenbank vergraben schlummerte. Dieses Gesicht hatte ich schon mal gesehen, und zwar als schwarzweißes Fahndungsfoto an eine Aktenmappe aus Pappe geheftet, und ich konnte mich noch ganz genau an das Bild erinnern. Seit das Foto gemacht worden war, hatte er ein paar Kilo abgenommen – vielleicht sogar ein paar zu viel. Sein Gesicht wirkte hager, die Wangen waren oberhalb des weißgrauen Barts eingefallen, und ich hätte gut und gern einen Finger zwischen die faltige Hühnerhaut an seinem Hals und den Hemdkragen stecken können. Er erinnerte mich an eine Schildkröte, die den Kopf aus ihrem Panzer schob – uralt und verwittert beugte er sich nach vorne, um besser an seine Chips zu kommen, als wolle er langsam über den filzbezogenen Tisch kriechen. Die schneeweißen Haare auf seinem Kopf waren länger, als ich sie in Erinnerung hatte, fast, als wolle er damit den Gewichtsverlust ausgleichen, aber womöglich hatte er auch bloß keine Zeit gehabt, zum Friseur zu gehen.
Aufmerksam beobachtete ich ihn und seine Bewegungen und suchte nach Hinweisen, dass er seine Tochter reden gehört hatte. Doch nichts deutete darauf hin. Er schien völlig versunken in das Spiel vor ihm und hatte die linke Hand auf dem grünen Filz ausgebreitet, den Zeigefinger leicht gekrümmt und allzeit bereit, dem Dealer ein Zeichen zu geben, wenn er eine weitere Karte benötigte. Mit der rechten Hand spielte er an einem Stapel Casino-Chips, wobei er den obersten Jeton mit dem Daumen herumdrehte und ihn dann mit wohlgeübter Geste unter dem letzten verschwinden ließ. Die Italienerin zu seiner Linken und der junge asiatische Spieler rechts zuckten mit keiner Wimper und ließen sich nicht anmerken, ob sie das Klackern störte oder nicht. Selbst wenn sie sich beschwert hätten, ich bezweifle, ob er es hätte abstellen können. Es sah aus wie eine tief verwurzelte Gewohnheit, die für ihn so selbstverständlich war wie Luftholen. Er machte das einfach. So war er eben. Alfred Newbury, professioneller Casino-Betrüger – Kartenzähler, Chiptauscher und, wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte, Superhirn und Planer hinter einigen der kühnsten Casino-Coups aller Zeiten.
Ich kann nicht behaupten, mir je den Kopf darüber zerbrochen zu haben, wie es wohl wäre, Victorias Eltern kennenzulernen. Ich wusste zwar, dass sie ihnen von mir erzählt hatte, das hatte sie mir selbst gesagt, aber darum erwartete ich noch lange nicht, demnächst zum Sonntagsbraten eingeladen zu werden. Zum einen war da nichts zwischen uns, und zum anderen waren ihre Eltern viel auf Reisen – meist unterwegs zu Casinos, die gerade neu eröffnet hatten und in denen die Sicherheitsvorkehrungen noch verhältnismäßig lax waren. Trotzdem, hätte ich den einen oder anderen Gedanken daran verschwendet, wäre ich sicher etwas nervös gewesen. Gut, ich bin zwar Schriftsteller, aber ganz nebenbei bin ich auch Ganove – wenn auch bloß ein lausiger kleiner Hauseinsteiger. Ich mochte zwar keine Leute umbringen (zumindest nicht absichtlich), und meistens konnten die Menschen, die ich beklaute, den Verlust gut verschmerzen, aber trotzdem zeugte das nicht unbedingt von einem einwandfreien Charakter. Nicht, dass ich mich dafür schämte, zumindest nicht so direkt, aber ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie das auf Außenstehende wirken musste. Und wenn ich eins verabscheute, dann die Vorstellung, Victorias Familie könne schlecht über mich denken. Doch nun, da wir uns so unverhofft in einem der ältesten Casinos Europas an einem Black-Jack-Tisch begegneten, sah die Sache plötzlich ganz anders aus. Ich sorgte mich nicht mehr, was für eine Meinung Alfred wohl von mir haben könnte – nein, vielmehr musste ich mich fragen, was ich von ihm zu halten hatte. Mein moralischer Kompass mochte während meiner Teenagerjahre ein wenig verbogen und lädiert worden sein, aber was ich so im Laufe der Zeit zusammengeklaut hatte, waren Kinkerlitzchen verglichen mit der Geschichte, in die er hier augenscheinlich verwickelt war. Sollte er tatsächlich vorhaben, dieses Turnier zu türken, ging es um die stattliche Gewinnsumme von einer halben Million Euro – ein Preisgeld, das sich zumindest teilweise aus den Startgeldern der hier anwesenden Mitspieler zusammensetzte. Victoria hatte mir glaubhaft versichert, er sei ein Meister seines Fachs – was ich auch schon von anderer
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