Schwarze Schiffe - Kommissar Ly ermittelt in Hanoi
zerstört. Immer wieder war sie provisorisch repariert worden und heute ein einziges Flickwerk. Wie ein angenagtes Gerippe hing sie über dem Wasser. Die Wegplatten aus Beton lagen nicht mehrganz fest auf und hauten unter den Rädern des Rollers auf die Metallträger der Brücke. Ly fuhr, bis er den Fluss unter sich spürte. Dann stellte er seinen Roller ab und ging ein Stück zu Fuß. Es war Mitte Mai, und obwohl das Thermometer tagsüber schnell die 35-Grad-Marke überschritt, kühlte es nachts noch ab.
Er stützte sich auf das Geländer und schaute nach unten. Er musste in etwa über der Sandbank stehen, die sich längs durch die Mitte des Flusses zog. Vereinzelte Lichter von Booten schwankten in diesem Schwarz. Er erinnerte sich an die Abende, an denen er und Thuy hierhergekommen waren, um ungestört zu sein. Es war eine schöne Zeit gewesen, aber das war lange her. Er zog eine Vinataba aus der Packung und zündete sie an. Der Rauch in den Lungen tat gut.
Er hörte entfernte Rufe und dann das Tuckern eines Bootsmotors. Das Geräusch wurde lauter und verstummte dann. Die Stille war wieder da.
»Haben Sie eine Zigarette für mich?«
Ly fuhr zusammen. Neben ihm stand ein Mann. Er hatte ihn nicht kommen hören, ganz so, als ob er eben dem Boden entstiegen sei. Seine Mutter würde sagen, nur Geister bewegen sich lautlos. Er glaubte nicht an Geister. Trotzdem hatte er eine Gänsehaut.
Ly konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Sein Tropenhelm saß tief im Gesicht. Er trug eine khakifarbene Armeehose und ein Armeehemd, wie man sie für wenig Geld auf jedem Markt bekam. Dazu Plastikschlappen.
»Geister und Dämonen! Sie haben mich erschreckt.«
»Das wollte ich nicht«, sagte der Mann mit tiefer, ruhigerStimme. Ly hielt ihm die Packung Vinataba entgegen, und der Mann hob seinen Kopf. Seine Augen waren ungewöhnlich hell, fast blau. Im Flackern des Feuerzeugs sah Ly an seinem Handgelenk drei schwarze Punkte. Doch bevor er genauer hinschauen konnte, hörte er das Heulen von Motoren. Er sah die Scheinwerfer über den schmalen Gehweg zwischen den hohen Metallträgern auf sich zukommen. Sie näherten sich rasend schnell. Ly wollte den Mann mit zur Seite ziehen, griff aber ins Leere. Er wankte, machte einen Schritt zur Seite, um das Gleichgewicht zu halten, und klammerte sich an das Brückengeländer. Das erste Motorrad jagte mit quietschenden Reifen an ihm vorbei, das Vorderrad in der Luft. Das zweite Motorrad folgte, rutschte mit dem Hinterrad weg, schlingerte und verschwand hinter dem ersten in der Nacht. Nur der Gestank von Benzin blieb hängen.
Ly stand eng an das Geländer gedrückt. Sein Herz pumpte rasend. Wie oft war er zu diesen furchtbaren Unfällen von diesen Wettrennen gerufen worden. Die Jungs schnitten die Bremsen ihrer aufpolierten Maschinen durch und jagten mit Vollgas durch die Stadt. Reinster Selbstmord, und immer wieder rissen sie Umstehende mit in den Tod. Ly sah sich nach dem Mann mit den hellen Augen um. Er stand an einer der Querstreben auf der anderen Seite der Bahngleise, die in der Mitte der Brücke verliefen, und sah ihn an. Ly hatte keine Ahnung, wie er dort hinübergelangt war. Er wollte einen Schritt in seine Richtung machen, als er nach unten schaute. Der Schreck schoss mit unerwarteter Wucht durch seinen Körper. Schweiß rann aus allen Poren seiner Haut. Seine Hände klammerten sich erneut am Geländer fest. Eine der Betonplattenneben ihm im Boden war zerbrochen, und ein Stück fehlte. Ein Loch, groß genug, um hindurchzufallen. Als er wieder aufblickte, war der Mann auf der anderen Seite der Schienen verschwunden.
*
Am nächsten Vormittag saß Ly lange im Café Mai. Es roch nach frisch gemahlenem Kaffee. Hauseigener Anbau aus dem mittelvietnamesischen Hochland. Leise Musik lief. Auf dem Tresen stand ein Aquarium. Sternfruchtgelbe Fische, die Ly nicht kannte, glitten durch ein Miniaturriff. Ly kam gerne ins Café Mai. Hier konnte er in Ruhe nachdenken, besser als im Büro.
Er überlegte, nach dem Mann mit den ungewöhnlich hellen Augen fahnden zu lassen. Aber er hatte nichts gegen ihn in der Hand, nichts als ein Ziehen in der Magengegend. Aber was hatte dieser Typ mitten in der Nacht auf der Brücke gewollt? Und war Ly gestern Nacht wirklich nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Oder war es vielleicht gar kein Zufall, dass die Motorradfahrer an ihm vorbeigeprescht waren? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Nach dem dritten Kaffee sah er ein, dass sie ihn nicht
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