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Schwarze Schmetterlinge

Schwarze Schmetterlinge

Titel: Schwarze Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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versteinert.
     
    Ein Mann in dunklem Anzug, weißem Hemd und Schlips machte den alten Mann auf sich aufmerksam. Sie hörte sie miteinander reden. Der Vortrag sollte in der Arena des Conventum gehalten werden, die bereits voll besetzt war. Fünfzehnhundert Menschen warteten. Nach dem Vortrag würde es eine halbe Stunde Pause geben, und dann würde es im unteren Stockwerk mit dem Bankett weitergehen.
     
    Pyret schnappte sich die Teilnehmerliste von den hinteren Bankreihen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen zu einem Durcheinander von kleinen Pünktchen, bis sie seinen Namen und den Text über ihn richtig lesen konnte. Professor Emeritus Frank Leander, Vortrag von 16.00 bis 17.30 Uhr. »Fetales Alkoholsyndrom« war das Thema des Vortrags. Und dann, während des Banketts nach dem Vortrag, sollte ihm der internationale Preis verliehen werden, für den ihn sein Lebenswerk und die Forschung qualifiziert hatten.
     
    Als sie seine trockene, knarrende Stimme aus dem Lautsprecher hörte, war sie ganz sicher, dass er es war. Das Publikum folgte seinen Ausführungen und lachte. Das Witzige an dem, was er gerade gesagt hatte, entging ihr. Sie hasste sie alle. Hasste ihre aufgerissenen Münder und ihr Gelächter. Steif an den Türrahmen gelehnt, hörte sie ihn von dem reden, was eigentlich privat sein sollte. In leicht scherzendem Tonfall rechtfertigte er den Fall, die Erniedrigung, die Scham. Zerrte an dem, was vergessen und unausgesprochen sein sollte, und wühlte darin herum. Machte sich wichtig mit dem, was nicht einmal ihm gehörte – das Leben, das er niemals hatte teilen müssen und auch nicht hatte verbergen müssen.
     
    Der Ekel überkam sie, und sie rannte zur Toilette. Schloss sich in der Dunkelheit ein und kauerte sich auf dem Fußboden am Papierkorb zusammen. Würgte und würgte, aber es kam nichts.
     
    Frank Leander, der selbstherrliche Richter, der ihr ihre Mama genommen hatte. Sie zur Trennung verurteilt hatte. Mutter und Kind mit seinem Schwert geteilt hatte, ohne zu sehen, dass ihre Herzen zusammengewachsen waren. Der Ort, an den Mama kommen sollte, hieß Entzug. Die Zeit wurde zu einem Stundenglas mit langsam rieselndem Sand, zu einer Ewigkeit ohne Nähe, ehe sie einander wieder umarmen durften. Sie hätten sich umarmen können, wäre da nicht das eklige sabbernde kleine Bündel gewesen, das sie im Kinderwagen mit nach Hause brachte. Ausgehungert nach Nähe hatte Pyret sich angeklammert, sich um Mamas Bein geschlungen und war doch weggeschubst worden.
     
    Um von dem berichten zu können, was sich im Schattenreich bei den Bösen Grauen abgespielt hatte, hätte sie einen Schoß gebraucht, Mamas warmen Schoß und ihre sanfte Stimme, bis das Harte im Bauch hätte schmelzen und die Worte hätten herauskommen können. Es war so unglaublich beschämend. Die Frau, bei der sie gewohnt hatte, als Mama im Entzug war, hatte sie gezwungen, ohne Unterhose im Kinderbett zu liegen. Hatte sie genötigt, die Beine zu spreizen und ihr Allerheimlichstes zu zeigen. Mit der Taschenlampe hatte sie geleuchtet, um etwas zu sehen. Ein aufgeregter Anruf in der Kinderklinik. Pyret konnte noch die Stimme hören. Wie die Frau am Telefon über ihr privates »Pipi« geredet hatte, über die Narben, die es da gab. Konnten die sehen, dass sie sich in den Schlaf gefummelt hatte? Dass ihre kleinen Kinderfinger den Trost gesucht hatten, den sie kriegen konnten? Sie waren mit dem Taxi in die Klinik gefahren. Das Gesicht des Kinderarztes war groß und ernst und erschreckend nah gewesen, als er ihr befahl, die Hosen auszuziehen. Sie hatte sich geweigert, getreten, gebissen und gezerrt. Ihn am Arm gekratzt, bis es geblutet hatte. Die Stimmen hatten versucht, sie zu beruhigen, zu befehlen, zu bitten und zu drohen, bis sie ihnen zu Willen gewesen war und ihren heimlichen Raum unter dem Scheinwerferlicht der Untersuchungslampe geöffnet hatte.
     
    Sie hatten Zugang zu ihrem Körper bekommen, aber nicht zu ihren Gedanken. Es gab einen Ausweg, den gefährlichen Weg durch das Reich des Feuers, wo die Sieben sie mit ihrem Wagen aus glühendem Eisen in Empfang nahmen.
     
    Sie spülte sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab. Stopfte Pyrets ängstliches Wesen tief in den Körper der erwachsenen Frau hinein, der völlig außer Kontrolle geraten war. Sie betrachtete sich eilig im Spiegel. Das Kindergesicht auf der anderen Seite des Glases war verschwunden. Sollte sie bleiben, oder musste sie sich krankschreiben lassen, um durch den Tag zu kommen?

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