Schwarze Stunde
selten vertrauen wir ihr auch unsere privaten Probleme an. Sie nimmt sich immer die Zeit, darauf einzugehen.
Als Frau Bollmann vor einem Jahr, zu Beginn der elften Klasse, den Kurs übernahm, gab sie eine ganze Unterrichtsstunde dafür her, um mit uns ins Gespräch zu kommen, bevor sie mit dem eigentlichen Unterricht begann.
»Als ich gehört habe, ich würde eine elfte Klasse bekommen, dachte ich, dann sind die so 16, 17 … Die triffst du am Wochenende abends in der Kneipe, das sind keine Kinder mehr.« Mit diesem Satz hatte sie uns Oberstufenschüler für sich gewonnen, auf Anhieb spürten wir: Hier ist endlich jemand, der uns ernst nimmt, uns nicht nur bevormunden will. Ihre Beliebtheit stieg noch, als sie den ganzen Kurs wenig später zu sich nach Hause einlud, um mit uns gemeinsam zu kochen. In ihrer großzügig geschnittenen Altbauwohnung habe ich mich sofort wohlgefühlt, mochte die hellen Naturholzmöbel, die offenen Regale, die flauschigen Teppiche auf dem matten Parkettboden und die Grünpflanzen, von denen einige fast bis an die hohen Zimmerdecken reichten. Alles wirkte ein bisschen nostalgisch, aber nicht wie vom Sperrmüll zusammengeschustert, sondern durchaus auch elegant und vor allem perfekt zu Frau Bollmann passend. Instinktiv fragte ich mich, ob ich mir vorstellen könnte, mich später ähnlich einzurichten. Der Gedanke gefiel mir.
»Hoffentlich ist die Bollmann schön braun gebrannt«, höre ich Oleg hinter mir witzeln. »Und hat ein hübsches dünnes Blüschen an.«
Ich drehe mich um.
»Halt deine Klappe«, fauche ich. »Das ist respektlos, wie du redest.«
»An eine wie Frau Bollmann würdest du sowieso nicht rankommen«, fügt Alena hinzu. Ich wende den Kopf und strahle sie an, wir heben unsere rechten Hände und klatschen sie lachend gegeneinander. Jetzt ist es geschafft. Alena und ich haben uns wieder. Alles Störende zwischen uns hat sich aufgelöst.
Es klingelt zur Stunde, und genau im selben Augenblick kommt Frau Bollmann herein, etwas hektisch in die Klasse blickend, die blonden, sehr glatten Haare wehen leicht nach hinten bei ihren schnellen Schritten. Sie stellt ihre Ledertasche auf dem Pult ab und atmet tief durch, ehe sie uns begrüßt.
»Guten Morgen, meine Lieben«, sagt sie. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen und hoffe, Sie hatten alle bereichernde und schöne Ferienerlebnisse und haben sich gut erholt. Eines möchte ich gleich vorweg ankündigen: In diesem Schuljahr wird nicht der gesamte Englischunterricht von mir abgehalten werden. Ein neuer Referendar, Herr Schwarze, fängt heute in unserer Schule an, und ich bin seine Mentorin. Das bedeutet, in den ersten Wochen wird er hauptsächlich hospitieren, nach und nach aber einzelne Unterrichtsphasen und ganze Stunden übernehmen. Nach ein paar Monaten unterrichtet er Sie dann eigenverantwortlich, und ich werde mich mehr und mehr zurückziehen – natürlich nur während des Unterrichts. Trotzdem bleibe ich natürlich Ihre Tutorin.«
Ein unwilliges Gemurmel breitet sich aus. Neben mir verdreht Alena die Augen, rückt mit ihrem Stuhl näher an mich heran.
»Ein Referendar«, stöhnt sie. »Das ist bestimmt wieder so ein Schlaffi, der sich nicht durchsetzen kann. Weißt du noch, der letzte, den wir in Mathe und Physik hatten? Bei dem hat man überhaupt nichts gelernt, das war so ein Vollpfosten.«
»Mir hat er leidgetan«, entgegne ich. »Manchmal sah er aus, als ob er gleich heult.«
»Sorry, aber wenn er so drauf ist, hat er seinen Beruf verfehlt, tut mir leid. Ich find’s einfach blöd, dass wir dann so wenig Unterricht bei Frau Bollmann haben.« Sie meldet sich.
»Alena, haben Sie eine Frage dazu?« Frau Bollmann sieht sie aufmerksam an. Alena nickt.
»Was ist, wenn der Referendar miesen Unterricht macht und wir dadurch unser Abi versauen?«
»Genau«, grölt Oleg. »Wir wollen Sie behalten, Frau Bollmann.«
Zustimmendes Gemurmel und unterdrücktes Lachen begleiten seinen Ausruf. Frau Bollmann bittet ihre Schüler, wieder ruhig zu werden.
»Ich kann verstehen, dass Sie das belastet«, gibt sie zu. »Aber bisher macht Herr Schwarze auf mich einen sehr angenehmen Eindruck, und ich setze voraus, dass Sie bei ihm eine ebenso positive Arbeitshaltung zeigen wie in unseren gemeinsamen Unterrichtsstunden. Herr Schwarze wird übrigens gleich kommen, um sich einmal vorzustellen; er wollte nur noch rasch etwas kopieren. Ich bin sicher, Sie werden ihn mögen.«
»Jeder hat eine ehrliche Chance verdient«, äußert Carla, die
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