Schwarze Themse
die verschiedensten Möglichkeiten rasten ihm durch den Kopf. Hester allein in der Klinik, mit der schlimmsten Krankheit konfrontiert, die der Menschheit überhaupt bekannt war. Er würde sie nie wiedersehen. Er konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Er konnte sich im Augenblick nicht einmal mehr daran erinnern, welche Worte sie als Letztes miteinander gewechselt hatten! Wusste sie, wie sehr er sie liebte, als seine Frau, seine Freundin. Sie war der einzige Mensch, ohne den er kein Ziel und keine Freude hatte, der Mensch, dessen Glaube an ihn alles kostbar machte, dessen Anerkennung Belohnung an sich war, von dessen Glück das seine abhing?
Ganz Europa konnte durch die Krankheit entvölkert werden. Ãberall Tote, das Land selbst im Niedergang. Geschichtsbücher berichteten, dass sich die ganze Welt verändert hatte, dass die alte Lebensweise untergegangen war und eine neue Ordnung geschaffen worden war â geschaffen werden musste.
»Hat sie Recht?«, fragte Sutton noch einmal.
Monk hob den Kopf. Wusste Sutton, dass er es Monk mit dieser Frage unmöglich machte, Nein zu sagen? Ja, ganz sicher wusste er es.
»Ja«, antwortete er. »Was wissen Sie über die Frau, die gestorben ist?«
»Sie hieà Ruth Clark, und sie wurde von einem Schiffseigner gebracht, der Louvain heiÃt. Er sagte, sie wäre die Geliebte eines Freundes, was vielleicht stimmt, vielleicht aber auch nicht.«
»Louvain?« Monk erstarrte, seine Gedanken überschlugen sich.
»Ja.« Sutton stand auf. »Ich muss gehen. Ich kann Sie nicht mehr treffen. Sie müssen Ihr Bestes tun.« Er schien noch etwas
hinzufügen zu wollen, aber es fielen ihm nicht die richtigen Worte ein.
»Ich weië, sagte Monk schnell. »Sagen Sie Hester â¦Â«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, antwortete Sutton einfach. »Wenn sie es nicht weiÃ, helfen auch keine Worte mehr. Finden Sie raus, wo der Ansteckungsherd ist. Und behutsam ⦠sehr, sehr behutsam.«
»Verstehe.« Auch Monk erhob sich, überrascht, dass das Zimmer sich nicht um ihn drehte. Er folgte Sutton und dem Hund zur Tür. »Auf Wiedersehen!«
Sutton trat hinaus auf die StraÃe. Regen trieb im Lampenschein und legte sich glänzend aufs Pflaster. »Gute Nacht«, antwortete er, bevor er sich umdrehte und mit einer eigentümlichen Ruhe und fast anmutigen Schrittes in die Dunkelheit hineinging, der Hund stets dicht auf seinen Fersen.
Monk schloss die Tür und ging zurück ins Wohnzimmer. Es wirkte stickig und unnatürlich still. Er setzte sich sehr langsam, denn er zitterte am ganzen Körper. Er musste seine Gedanken ordnen, und Denken war die einzige Möglichkeit, sich unter Kontrolle zu bringen.
Ruth Clark war an der Pest gestorben. Clement Louvain hatte sie in die Portpool Lane gebracht. Von wo? Wo war sie vorher gewesen? Er hatte behauptet, sie sei die abgelegte Geliebte eines Freundes. Stimmte das? War sie seine Geliebte gewesen? Er wusste, dass sie krank war, aber hatte er eine Ahnung, was ihr fehlte?
Wo hatte sie sich mit einer solchen Krankheit angesteckt? Nicht in London. Die »Maude Idris« war eben von Afrika zurückgekommen. War sie an Bord gewesen? Hatte sie sich dort angesteckt? Wusste oder ahnte Louvain etwas? Und ausgerechnet zu Hester hatte er sie gebracht!
Für einen Augenblick wurde Monk von flammender Wut übermannt, die ihn fast blind machte. Sein Körper zitterte noch heftiger, und seine Nägel gruben sich so fest in die Handballen, dass es blutete.
Er musste sich unter Kontrolle bekommen! Er hatte keine Ahnung, ob Louvain gewusst hatte, was der Frau fehlte. Aber das war eher unwahrscheinlich. Die Frau war krank. Das war auch alles, was Hester gewusst hatte, und sie war schlieÃlich Krankenschwester und hatte sich Tag und Nacht um sie gekümmert.
Er schritt im Zimmer auf und ab. Sollte er zu Louvain gehen und es ihm sagen? Sollte er ihm sagen, dass Ruth tot war? Falls Louvain gewusst hatte, dass sie an der Pest erkrankt war, hatte er auch gewusst, dass sie sterben würde. Falls nicht, würde er dann jetzt in Panik geraten? Würde er den Albtraum auslösen, vor dem sie sich fürchteten? Und wenn sie seine Geliebte gewesen war? Hatte er sich um sie gesorgt? Warum hatte er keine Krankenschwester geholt, die sich um die Frau kümmerte, sondern sie in eine Klinik für StraÃenmädchen gebracht, wo Fremde sie versorgten? Es war
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