Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
Ihr Euch an ihren Anblick gewöhntet«, sagte der Zauberer. »Hier gibt es noch weitere von ihnen. Sie bewachen den Turm.«
Millepertia steckte den Schlüssel in eine Mauerfuge neben dem Haupteingang und drehte ihn. Rumpelnd schoben sich die Quader auseinander und gaben den Weg in eine düstere Kammer frei. Lukas beschloss, all die Seltsamkeiten einfach hinzunehmen. Er folgte seinen Begleitern, die Wand wuchs hinter ihnen wieder zusammen, und irgendwo über ihnen gellte ein schriller Raubvogelschrei durch die Decke. Ein Ruck durchlief die Kammer. Das ziehende Gefühl in seiner Magengegend vermittelte Lukas den Eindruck, als würde der Raum angehoben und nach oben gezogen.
Schließlich öffnete sich die Wand auf der anderen Seite der Kammer, und sie betraten ein stattliches Turmzimmer, dessen Anblick ihn beeindruckt innehalten ließ. Links und rechts entdeckte er runde Fensterdurchbrüche mit altertümlichen Butzenscheiben, auf denen Dutzende milchig grauer Zahlen eingelassen waren. Die Luft roch nach Leder und Pergament. Kein Wunder, denn die schmucklosen Ziegelwände zierten halboffene Schränke, gläserne Vitrinen, Kommoden und hohe Regale, die unter der Last alter Folianten und Schriftrollen ächzten. Überall lagen aufgeschlagene Atlanten herum. Altertümliche Stadt- und Geländekarten hingen an Ständern, zwischen zwei mannshohen Drachenstatuen stand ein hölzerner und von Nadeln gespickter Globus, und auf einem Arbeitstisch lagen kupferne Zirkel, Lineale und andere Winkelmesser. Das Chaos setzte sich auch unter der Turmkuppel fort, denn etwa drei Meter über ihren Köpfen verlief eine Rundgalerie, von der Türen zu weiteren Räumen abzweigten. Auch in der Kuppel säumten unzählige Regale die Wände. Lukas trat interessiert vor einen Schaukasten mit polierter Kristallfläche, unter der versteinerte Muscheln, Trilobithen und Ammoniten ausgestellt waren. Dann fiel sein Blick auf eine Sammlung an der Wand hängender Wünschelruten sowie offene Kisten, in denen Flaschen standen, die augenscheinlich mit verschiedenfarbigen Sand- und Erdproben gefüllt waren.
Abraham von Worms beäugte ihn aufmerksam, während er die aufgeschlagenen Seiten eines auf Latein verfassten Quartbandes betrachtete, dessen farbenprächtige Abbildung ohne Zweifel den Rosengarten zeigte. Nur dass inmitten der Blumen und Bäume ein überaus hässlicher Zwerg mit knotigen Gliedmaßen und Blähbauch tanzte, der Lukas entfernt an das Rumpelstilzchen aus den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen erinnerte. Darunter prangte ein lateinischer Schriftzug:
Alberich. Rex albae.
Albenkönig? Hatte nicht bereits Mephisto diesen Alberich erwähnt? Nur dass er sich einen Albenkönig deutlich anders vorgestellt hätte. Galadriel kam ihm in den Sinn, Legolas und überhaupt
Der Herr der Ringe.
Die Alben in der Verfilmung, die hatten etwas hergemacht. Aber dieser Gnom hier? Auf der anderen Seite – wenn der Winzling nur über halb so viel Macht verfügte, wie Lukas es sich von einem
Albenkönig
ausmalte, wollte er ihm definitiv nicht begegnen.
Noch ehe Lukas fragen konnte, was es mit diesem Rumpelstilzchen-Verschnitt auf sich hatte, trat Millepertia an eine der beiden Drachenstatuen heran und legte ihr den Schlüssel in die Klauen. Die Pranken schlossen sich mit knirschendem Geräusch; der Rest des Golems regte sich nicht. Lukas wandte sich dem eigentlichen Blickfang des Turmzimmers zu – einem runden, fast drei Meter durchmessenden Sockel aus schwarzem Basalt, der sich in der Mitte des Raumes erhob. Seine Oberfläche wirkte poliert, und sein Rand war mit vergoldeten astrologischen oder astronomischen Symbolen beschriftet, genau vermochte er das nicht zu sagen. Nur wenige Zollbreit über dem Sockel, hell beleuchtet von den Lichtkegeln der Rundfenster, baumelte ein vergoldetes, fast mannsgroßes Foucaultsches Pendel, dessen lange Drähte sich in der Dunkelheit der Turmspitze verloren. Das monströse Pendel hing schief und zitterte leicht. Wie eine Pfeilspitze wies es auf eine Reihe vergoldeter Symbole, die die Oberfläche des Sockels wie die Beschriftung einer Sonnenuhr zierten.
»Ebenfalls beeindruckend«, sagte Lukas anerkennend. »Was auch immer Sie hier mit dem ganzen Kram machen.«
»Ich bin Geomant, Herr Faust.« Abraham von Worms hängte sich die winzige Armillarsphäre wieder um den Hals und ließ sie unter seinem langen Bart verschwinden. »Mein Spezialgebiet«, fuhr er fort, »ist die arkane Erforschung und Nutzung von Kraftlinien, Wasseradern
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