Schwarze Träume: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
Das fand ich nicht fair.
Nathaniel trat an meine Seite und hielt mir die Browning hin, wortlos und genau, wie ich es ihm beigebracht hatte, mit dem Griff voran und die Finger möglichst weit vom Abzug entfernt.
Er hätte mehr von mir verdient als ein halbes Lächeln, doch ich musste den blutigen Riesen am Boden im Auge behalten. Ich entsicherte die Waffe, ehe ich sie ins Holster steckte. Ich hatte so eine Ahnung. Wenn Primo uns doch noch angriffe, hätte ich für diese Sekunde eine bessere Verwendung.
Doch er griff uns nicht an. Nein, Primo hatte eine viel interessantere Idee. Durch meine enge Bindung an Jean-Claude fühlte ich mich sicher, und dieses Sicherheitsgefühl war eine Form der Arroganz. Arroganz ließ mich vergessen, dass ein richtig alter Vampir mehr drauf hat als körperliche Gewalt. Jean-Claudes Arroganz ließ mich das vergessen.
Primo rührte keinen Muskel, sondern schleuderte Macht nach uns, goss seine sengende Wut über uns aus wie einen Eimer glühender Kohlen. Wir schafften es nicht mehr, uns abzuschirmen, sondern mussten uns stellen. Jean-Claude versuchte, sie an sich abperlen zu lassen. Aber ich spürte, wie diese schreckliche Wut nach einer Stelle in ihm suchte, wo sie anschwellen könnte. Der Meister der Stadt verzehrt von Wut, das wäre wirklich schlecht. Doch mit Wut kannte ich mich aus, und ich war nicht Meister der Stadt.
Ich ließ die Wut nicht abgleiten, sondern schluckte sie und suhlte mich darin. Ich hüllte mich darin ein wie in einen Mantel aus Feuer und öffnete in mir einen Platz, den ich vor jedem anderen verborgen hielt. Ich ließ Primos Wut auf die große brodelnde Masse meiner eigenen Wut stoßen. Auf die Wut, die ich schon seit dem Tod meiner Mutter in mir trug. Die tiefe endlose See meiner Wut nahm seine in Empfang und hieß sie willkommen, nährte sich daran. Ich verzehrte seine Wut und ließ es ihn fühlen.
Ich lachte, stand lachend da und brannte in doppeltem Zorn. Ich lachte, während ich seinen Zorn schwächer werden fühlte. Ich lachte, während ich seinen mit meinem vermischte. Meine Wut war schon wie ein Fass ohne Boden, da konnte er gut noch ein paar Eimer voll hineinkippen.
Er starrte blicklos zu mir hoch, dann tat er ungefähr, was ich erwartet hatte. Er kam auf uns zu, aber nicht in sinnloser Wut, sondern mit einer Schnelligkeit, die mir die Sprache verschlug, und ich hatte an Schnelligkeit schon einiges gesehen. Blind griff er zu, und es war Nathaniel, den er erwischte. Nathaniel stand neben uns. Ich wusste nicht, ob er es auf ihn abgesehen oder ob er sich vergriffen hatte, jedenfalls packte er ihn am Handgelenk und wollte ihn zu sich heranreißen. Doch Nathaniel stemmte sich dagegen.
Plötzlich waren wir alle in Bewegung. Die Rausschmeißer stürmten heran, würden aber zu spät kommen. Ich hatte die Pistole so gut wie in der Hand, aber Primo hatte sich auf Nathaniel zubewegt, sowie er dessen Widerstand spürte. Ich war am nächsten dran und bewegte mich schneller als geplant. Ich konnte meine unmenschliche Schnelligkeit noch immer nicht kalkulieren. Ich griff nach Nathaniels Arm und kam dabei dem Vampirgesicht zu nah.
Primo schlug die Zähne in mein Handgelenk. Ich war nicht so dumm, mich loszureißen. Damit hätte ich mir das Hand gelenk aufgerissen. Ich hatte die Pistole in der Hand, als ich schrie, und ich schrie weiter, während er an mir saugte und ich ihm den Lauf an den Kopf drückte.
Mein Finger krümmte sich bereits um den Abzug, als Primos Geist mit voller Wucht in meinen Verstand einbrach. Es war nicht seine Wut, es war sein Gedächtnis, das ich abbekam. Römisches Heer, der Mord, für den er verurteilt wurde, die Arena, wo er nach Herzenslust töten konnte, wo er seine Wut stillen oder nähren konnte. Ich sah einen Tod nach dem anderen, und jeder befriedigte ihn auf eine Weise, wie nichts anderes es vermochte.
Dann ließ ihn eines Abends eine Adlige zu sich rufen und verlangte, dass er sich mit dem Blut und Schweiß seines Sieges zu ihr ins Bett legte. Er tat es und fand mehr, als er sich hätte träumen lassen. Sie bot ihm die Freiheit an und eine neue Art, seinen Zorn zu befriedigen. Eine neue Art zu töten. Er kannte ihren wirklichen Namen nicht. Sie sagte nur: Ich bin der Drache, und du wirst mir dienen. Und das tat er.
Die Erinnerungsbilder brachen abrupt ab. Ich taumelte und konnte mich nur mühsam davon abhalten, zu schießen. Ich richtete den Lauf zur Decke und versuchte, das Atmen neu zu lernen und mich gleichzeitig zu
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