Schwarzer, Alice
durchführt, um
irgendwas zu machen. »Warum werden in Taliban-Gebieten keine Schulen gebaut?«
frage ich einen Soldaten. In den Dörfern, wo die Aufständischen sitzen, würde
man noch nicht mal mit uns reden wollen, lautet die Antwort.
Kunduz wie Kabul können trügerisch friedlich sein. Eines
Vormittags machen Yassin und ich uns selbstständig und rasten in einem
Gästehaus in Kunduz-Stadt. Man bringt uns eine Cola. Der Besitzer, Vater von
drei Jungs und zwei Mädchen, setzt sich zu uns. Stress würde man in Kunduz
nicht kennen, sagt er. Das Leben wäre angenehm, nicht wie im Rest des Landes.
Weil es einige Tage davor einen Anschlag auf Mädchenschulen
in Kunduz gegeben hatte, frage ich den Mann, wo denn seine Kinder zur Schule
gehen würden. Erstaunt blickt er mich an: »Nicht hier«, sagt er. »Zu viele
Entführungen! Meine Familie ist in Uzbekistan.«
Wir trinken unsere Cola schnell aus und verabschieden uns. ■ EMMA
3/2010
GABRIELE VENZKY / AFGHANISTAN IM JAHRE
2001
Razia ist etwa zwölf. Ganz sicher ist sie sich nicht.
Sicher ist nur, dass sie zwei Köpfe größer ist als die anderen in ihrer Klasse.
Das ist die Klasse eins der Grundschule Ariana im pakistanischen Peschawar.
Dort sitzt Razia nun und krakelt auf einer Schiefertafel, schaut Hilfe suchend
neben sich auf die Nachbarin. Die ist sechs und kann alles viel besser. Razia
schämt sich. Aber sie ist auch glücklich. Schule - das war ihr Traum. Sie hatte
gerade begonnen, schreiben und lesen zu lernen, als die Taliban in ihrer
kleinen afghanischen Stadt auftauchten und erklärten: Schluss mit der Schule
für Mädchen. Dabei hatte Razia sich doch Großes vorgenommen. »Daktar« wollte
sie werden, Ärztin. Ob das jetzt noch klappt?
Erst seit Kurzem geht Razia wieder zur Schule, entkommen,
der Hölle Afghanistan. Ihre Eltern in Jalalabad hatten alles, was sie noch
besaßen, zusammengekratzt, das Schmiergeld für die Taliban, die Schlepper und
die pakistanischen Grenzpolizisten. Dann hatten sie die drei Kinder allein
losgeschickt - den älteren Bruder mit Razia und der kleinen Schwester Fatima
an der Hand. Ins Ungewisse, das den Namen Peschawar trägt.
Die Eltern ahnten nicht, dass nur wenige Tage später das
Regime der Taliban wie ein Kartenhaus zusammenstürzen würde. Wer wusste das
schon? Nicht einmal die Amerikaner hatten damit gerechnet. Nun sitzen Razia
und ihre Geschwister im Wellblechverschlag des Onkels in Tajabad, dem größten
Afghanenslum von Peschawar, mit seinen nackten, verrotzten Kindern, der stinkenden,
offenen Kanalisation und den überall herumlungernden arbeitslosen Männern. Am
liebsten möchte Razia sofort zurück nach Hause. Doch die Eltern in Jalalabad wollen
das nicht. Sie haben einen Boten geschickt: »Bleibt, wo ihr seid, wir wissen
doch nicht, wie es weitergeht.« Auch Razias Lehrerin an der Ariana-Schule will
erst einmal abwarten. »Wer weiß, was wird?«
Denn aus Kabul und den anderen Teilen Afghanistans kommen
beunruhigende Nachrichten. Dort pokern die Männer um die Macht, wieder einmal,
mehr noch: Sie kämpfen darum. Unterdessen huschen die meisten Frauen sogar in
Kabul immer noch so, als ob es sie gar nicht gäbe, unter ihren Burkas durch die
Straßen. »Wir können doch nicht sicher sein, dass die Taliban nicht
zurückkommen«, klagt eine dieser »Unsichtbaren«. Und sie fügt nach einer
kleinen Pause hinzu: »Die Männer bestehen darauf.«
Denn die radikalen Fundamentalisten sind überall, ob sie
nun Taliban heißen oder Nordallianz. Abgrundtiefe Frauenverachtung ist der
akzeptierte »way of life« in Afghanistan. Selbst jenseits der Grenzen ist das
so. »Bleib erst mal hier«, sagt auch der Onkel in Tajabad zu Razia. »Hier haben
wir wenigstens Freiheit.« Freiheit! »Anders als in Herakat«, sagt er und zeigt
mit dem Kopf hinüber in Richtung Öde. Dort stehen die dunklen Zelte und die
zerborstenen Lehmhütten des größten Flüchtlingscamps von Peschawar, und da,
wie in vielen anderen, herrschen die Fundamentalisten - obwohl die Lager von
den internationalen Hilfsorganisationen unterhalten werden. Eineinhalb Millionen
Afghanen, mehr als in Kabul, leben in Peschawar. Aber selbst in den Lagern sind
sie nicht sicher vor den Fanatikern.
Deshalb hat auch Razias Lehrerin alles darangesetzt, dass
sie nicht ins Camp musste, sondern bei Verwandten im Afghanenslum
unterschlüpfen konnte. »Zum ersten Mal ohne Burka«, sagt sie. »Es ist wie eine
Befreiung.« Es ist eine Befreiung! Die Befreiung, von der
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