Schwarzer Engel
atmen. »Laßt uns demütig um Vergebung bitten, damit wir dieses neue Kapitel unseres Lebens betreten können, ohne die alten Sünden mitzuschleppen, den alten Kummer und die alten Versprechungen, die nie gehalten wurden. Laßt uns jeden Tag aufs neue Ehrfurcht denen gegenüber empfinden, die uns vielleicht nach unserer Meinung in der Vergangenheit Übles getan haben. Und laßt uns auch uns selbst dazu verpflichten, nur das den anderen zuzufügen, was wir auch selbst wollen.
Wir sind Sterbliche, die auf dieses Ende gestellt wurden, um unser Leben in Demut zuzubringen, ohne Abneigungen und ohne Groll…«, so redete er immer weiter, offensichtlich an mich gewandt. Endlich war die Predigt vorbei, und er hatte nichts gesagt, was ich nicht schon früher gehört hätte. Was also brachte mich auf den Gedanken, er würde mich warnen, Frieden zu bewahren? War er informiert, daß ich darüber Bescheid wußte, daß er das hübsche, kleine Mädchen gezeugt hatte, das von einem rückwärtigen Kinderzimmer hereingebracht und, immer noch schlafend, in die Arme seiner Frau gelegt wurde? Ich stand auf, half Großpapa auf die Füße und ging auf die Tür zu. Ich blieb nicht auf meinem Platz, wie man es von allen lumpigen Hillbillys erwartete, damit sie die Letzten waren, die hinausgehen und die fromme, geheiligte Hand des Reverends schütteln durften.
Kaum waren Großpa und ich draußen auf der Straße, die vor heißer Feuchtigkeit dampfte, als ein Mann rasch auf mich zueilte und meinen Namen rief. Mein erster Gedanke war –
Logan… dann sank mir das Herz in die Hose. Es war Cal Dennison, der seine Hand ausstreckte und mich mit einem glücklichen Lächeln anstrahlte. »Heaven, liebe Heaven«, schnaufte er, »wie schön, dich wiederzusehen! Du siehst wunderbar aus, absolut wunderbar… jetzt erzähl mir mal alles von dir, was du gemacht hast und wie dir Boston gefällt.«
»Boston mag ich sehr«, gab ich zur Antwort, wobei ich mich an Großpas Arm klammerte und auf das Hotel zusteuerte, in dem ich abgestiegen war. Die Main Street langsam hinunterzugehen kam einem Spießrutenlaufen gleich. Jeder starrte uns an, dabei hatte ich gar kein Bedürfnis mit Cal Dennison gesehen zu werden!
»Heaven, versuchst du, mich abzuschieben?« fragte Cal. Auf seinem gutaussehenden Gesicht glitzerte der Schweiß,
»können wir nicht irgendwo hingehen, uns hinsetzen, etwas trinken und dann reden?«
»Ich habe schrecklich Kopfweh und freue mich außerdem auf ein ausgedehntes, kühles Bad vor dem Schlafengehen«, antwortete ich offen.
Als er meine Ausflüchte hörte, schien seine ganze Haltung zusammenzubrechen. »Du klingst wie Kitty«, murmelte er.
Dann ließ er den Kopf hängen, und sofort hatte ich Schuldgefühle. Dann fiel mir wieder ein, daß ja Großpapa noch immer neben mir stand. »Wo bleibst du denn, Großpapa?« fragte ich, als wir draußen vor dem einzigen Hotel in Winnerow standen.
»Luke hat die Hütte wieder für mich und Annie hergerichtet.
Ich bleib’ dort, natürlich.«
»Großpapa, bleib bei mir im Hotel. Ich kann dir ein anderes Zimmer mieten, sogar eines mit Farbfernseher.«
»Muß schau’n, daß ich zu Annie zurückkomm’… sie wartet schon.«
Ich gab auf. »Aber Großpa, wie willst du denn dahinkommen?«
Seine Verwirrung brachte ihn zum Schwanken, sogar als er dastand und auf mich wartete. »Werd’ schau’n, daß mich Skeeter Burl mitnimmt. Er mag mich jetzt.«
Skeeter Burl? Das war der schlimmste Feind, den sich Pa je in den Bergen gemacht hatte – und der mochte Großpapa nun?
Das war, als ob man glauben wollte, daß Sonnenanbeter im Juli den Schnee vom Januar mögen würden.
Manchmal konnte ich schon ein verdammter Narr sein, ohne jeden Funken Verstand. Ich faßte also Großpapa sanft am Arm und zu zweit steuerten wir aufs Hotel zu. »Großpapa, es sieht so aus, als ob du trotz allem diese Nacht im Hotel verbringen müßtest.«
Sofort war er aufgeschreckt. Er hätte noch nie in einem
»gemieteten« Bett geschlafen, er wolle das nicht. Annie brauchte ihn! Außerdem habe er Tiere zu Hause, die darunter zu leiden hätten, wenn er nicht zurückkäme.
Seine blassen, tränenden Augen flehten um Mitleid. »Geh du ruhig in dein Hotel, Heaven-Kind. Kümmer dich kein bißchen um mich.«
Verzweiflung gab ihm die nötige Energie. Er entzog sich meinem festen Griff. Großpapa bewegte sich schneller, als ich es glauben konnte, und war schon drauf und dran, wegzuhumpeln, die Main Street hinunter. »Du gehst und
Weitere Kostenlose Bücher