Schwarzer Engel
ganze Minute lang war ich unfähig zu antworten. »Für jedes, das du mir schenkst, wäre ich dankbar«, flüsterte ich.
»Ach, komm jetzt, dein erstes Auto ist ein tolles Ereignis –
laß uns was Besonderes aussuchen. Bis dahin denk darüber nach und beobachte die Autos auf den Straßen. Besuche Autohändler und schau dir Schaufenster an. Lerne, kritisch zu sein, und vor allem entwickle deinen persönlichen Stil. Sei du selbst mit etwas Besonderem.«
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er meinte. Trotzdem würde ich seinen Rat annehmen und versuchen, »kritisch« zu sein. Während ich dasaß, noch immer von dem Tag, an dem ich mein eigenes Auto besitzen würde, fasziniert, breitete er den Stadtplan auf dem Schreibtisch aus. »Hier ist Winterhaven«, sagte er und deutete mit dem Finger auf einen rotumrandeten Fleck. »Und hier ist Farthy.«
Zwei Wochen nach meiner Ankunft in Boston war ich in Winterhaven aufgenommen. Troy hatte ich nicht wiedergesehen, aber ich dachte an ihn, als Tony die Wagentür für mich öffnete und ohne Umstände auf die elegante Schule zusteuerte. Das war also Winterhaven. Behaglich kuschelte es sich auf sein eigenes kleines Schulgelände unter nackten, winterlichen Bäumen. Einige immergrüne Pflanzen lockerten die Öde auf. Das Hauptgebäude aus weißen Schindeln glänzte in der frühen Nachmittagssonne. Ich hatte ein Steingebäude, eines aus Ziegeln, erwartet, nicht so etwas. »Tony«, rief ich aus, »Winterhaven sieht wie eine Kirche aus!«
»Vergaß ich denn zu erzählen, daß es mal eine Kirche war?«
fragte er mit lachenden Augen. »Die Glocken im Turm dort werden jede Stunde schlagen, und in der Dämmerung spielen sie Melodien. Wenn der Wind richtig steht, hat es manchmal den Eindruck, als ob man diese Glocken in ganz Boston hören könnte. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.«
Winterhaven beeindruckte mich, der Glockenturm, die Reihe kleinerer Gebäude im selben Stil wie das größere. »Du wirst in Beecham Hall Englisch und Literatur studieren«, belehrte mich Tony und deutete auf das weiße Gebäude rechts vom Haupthaus. »Alle Gebäude haben Namen, und sie bilden, wie du siehst, einen Halbkreis. Ich habe gehört, es gibt einen unterirdischen Gang, der die fünf Häuser verbindet – für die Tage, an denen der Schnee das Gehen erschwert. Du wirst im Haupthaus bleiben, das die Schlaf- und Eßräume enthält. Auch die Versammlungen finden dort statt. Bei unserem Eintritt wird dich jedes Mädchen dort mustern und sich seine Meinung bilden. Halte also deinen Kopf hoch. Gib ihnen nicht den leisesten Verdacht, daß du dich verletzlich, unpassend oder eingeschüchtert fühlst. Die Familie VanVoreen kann man bis zu Plymouth Rock zurückverfolgen.«
Inzwischen wußte ich, VanVoreen war ein holländischer Name, alteingesessen und achtbar… aber ich selbst war ja nie eine richtige VanVoreen gewesen, sondern nur eine lausige Casteel aus West-Virginia. Mein Hintergrund schleppte sich hinter mir her, warf lange Schatten und verdüsterte meine Zukunft. Nur einen einzigen Fehler mußte ich machen und schon würden mich diese Mädchen mit ihrem »richtigen«
Hintergrund als die verachten, die ich wirklich war. Alles, wobei ich mich je unpassend gefühlt hatte, fing an, mir auf der Haut zu prickeln, mir das Blut heiß werden zu lassen. Ich fühlte mich so ängstlich, daß ich schwitzte. Ich hatte viel zu viel an, ganze Lagen von neuer Kleidung: Eine Bluse mit einem Kaschmirpullover, einen Wollrock und über allem einen Kaschmirmantel für tausend Dollar! Meine Haare waren frisch frisiert und kürzer, als ich sie je getragen hatte. Die Spiegel hatten mir am Morgen mein hübsches Aussehen bestätigt –
warum also zitterte ich?
Die Gesichter an den Fenstern, das mußten sie sein! Alle diese Augen, die mich anstarrten und die Neue an ihrem ersten Tag beobachteten.
Tony gab mir Vertrauen, sein Lächeln die Energie, die Stufen hinaufzugehen, als ob ich mein Leben lang exklusive Privatschulen besucht hätte. Endlich drinnen im Haupthaus, sah ich mich zitternd um. Ich hatte so was wie eine schicke Hotelhalle erwartet, aber was ich sah, wirkte eher schlicht. Es war sehr sauber, mit auf Hochglanz polierten Parkettböden.
Die Wände waren cremeweiß, die geschnitzten Paneele dunkel marmoriert. Farne und andere Topfpflanzen standen an einigen Stellen auf Tischen und neben Stühlen mit hohen Lehnen, die ziemlich hart aussahen, verteilt, um die weißen Wände aufzulockern.
Aus der
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