Schwarzer Engel
morgens erledigen. Ich schlage vor, Sie übernehmen diese Gewohnheit. Frühstück gibt’s um sieben Uhr dreißig im Erdgeschoß. Es gibt Hinweisschilder, die Sie zu den verschiedenen Plätzen führen.« Aus einer schmalen Tasche ihres dunklen Wollrocks zog sie eine kleine Karte und gab sie mir.
»Hier ist die Zuteilung für Ihre Studierklassen. Ihren Stundenplan habe ich selbst zusammengestellt, aber wenn Sie damit Schwierigkeiten haben sollten, lassen Sie es mich wissen.
Wir halten nichts von Bevorzugung, Sie werden Ihr Ansehen bei Lehrern und Klassenkameradinnen verdienen müssen. Ein unterirdischer Gang verbindet alle unsere Gebäude miteinander, darf aber nur an Tagen mit stürmischem Wetter benutzt werden. Ansonsten werden Sie draußen laufen, wo die frische Luft Ihre Lungen kräftigen wird. Sie sind hier während der Mittagszeit angekommen, aber Ihr Begleiter bestätigte mir, daß Sie schon zu Mittag gegessen haben.« Sie machte eine Pause und starrte auf meinen Scheitel, während sie auf meine Bestätigung wartete.
Erst danach fixierte sie die zwölf äußerst teuren Gepäckstücke. Ich hatte das Gefühl, Verachtung auf ihrem Gesicht zu sehen – oder Neid, das konnte ich nicht sagen. »Wir in Winterhaven prahlen nicht mit unserem Reichtum durch auffällige Kleidung. Hoffentlich beherzigen Sie das. Bis vor wenigen Jahren mußten alle unsere Studenten Uniformen tragen – das machte alles viel einfacher. Aber die Mädchen hörten nicht auf zu protestieren, und die Gönner unserer Schule stimmten ihnen bei. Deshalb tragen sie jetzt, was sie wollen.«
Wieder wandte sie sich mir zu, fremd und zurückhaltend. »Für diejenigen in den beiden unteren Klassen wird das Mittagessen um zwölf serviert, für alle übrigen um zwölf Uhr dreißig. Es wird erwartet, daß Sie bei allen Mahlzeiten pünktlich erscheinen, sonst erhalten Sie nichts. Man hat für Sie einen Tisch reserviert. Ihren Sitzplatz werden Sie nicht verändern, außer wenn die Mitglieder einer anderen Tischrunde Sie zu sich einladen oder Sie diese an Ihren Tisch bitten. Abendessen ist um sechs Uhr, es gelten dieselben Regeln. Jeder Student sollte pro Semester eine Woche lang das Essen auftragen.
Dieser Dienst rotiert, aber die meisten Studenten haben Spaß daran.« Sie räusperte sich, um fortzufahren. »Wir erwarten von unseren Mädchen, daß in den Zimmern nichts zu essen gehortet und keine geheimen Mitternachtspartys gefeiert werden. Sie dürfen ein Radio oder einen Plattenspieler oder einen Cassettenrecorder oder einen Fernseher besitzen. Wenn man Sie mit Alkohol – und da ist Bier eingeschlossen –
erwischt, erhalten Sie einen Verweis. Mit drei Verweisen in einem Semester wird man Sie entlassen und nur ein Viertel des Schulgeldes zurückerstatten. Studierzeit ist zwischen sieben und acht Uhr, von acht bis neun können Sie in unserem Aufenthaltsraum fernsehen. Ihren Lesestoff zensieren wir nicht, aber Pornographie kommt nicht in Frage. Sollte man bei Ihnen widerwärtigen Schund entdecken, gibt das einen Verweis. Unsere Mädchen dürfen nicht spielen. Sollte auf einem Spieltisch Geld entdeckt werden, werden alle Spielerinnen bestraft und erhalten Verweise. Ach, vergaß ich zu erwähnen, daß alle Verweise von irgendeiner Art Strafe begleitet werden? Wir passen die Strafe dem Vergehen an.« Ihr saures Lächeln hellte sich auf. »Ich hoffe, es wird nicht nötig sein, Sie zu bestrafen, Miss Casteel. Und Punkt zehn Uhr hat das Licht aus zu sein.«
Mit den letzten Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und ging hinaus.
Und sie hatte mir nicht mal das Badezimmer gezeigt!
Als sie außer Sichtweite war, begann ich in noch derselben Minute danach zu suchen. Ich probierte die Tür, die sie nicht benutzt hatte. Sie war zu. Ich setzte mich hin, um die kleine Karte mit der Klassenzuteilung zu lesen. Acht Uhr Englisch, in Elmhurst Hall. Und jetzt brauchte ich ganz dringend eine Toilette.
Mein ganzes Gepäck ließ ich auf dem Fußboden meines Zimmers und rannte auf der Suche nach Hinweistafeln die Halle hinunter. Auf dem zweiten Stock fühlte ich mich mutterseelenallein, das Gekicher und Gegacker von vorhin war verschwunden. Drei Zimmer probierte ich, bis ich endlich ein kleines Messingschild »Toilette« sah.
Erleichtert stieß ich die Schwingtüre auf und betrat einen riesigen Raum, in dem an einer ganzen Wand weiße Waschbecken mit Spiegeln darüber angebracht waren. Der Boden war schwarzweiß gefliest, und um diesen harten Kontrast zu lindern, waren
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