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Schwarzer Engel

Schwarzer Engel

Titel: Schwarzer Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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Casteel, da Sie erst am Ende des Semesters zu uns stoßen, erwarten wir, daß Sie noch vor Wochenende aufholen. Jeden Freitag gibt es eine Schulaufgabe, um Ihren Wissensstand zu prüfen. Und jetzt Mädchen, lest zu Beginn des heutigen Unterrichts die Seiten 212 bis 242. Wenn ihr damit fertig seid, macht die Bücher zu und legt sie unter eure Pulte. Dann werden wir mit unserer Diskussion beginnen.«
    Bald fand ich heraus, daß Schule überall mehr oder weniger gleich war: Seiten lesen und Fragen von der Tafel abschreiben.
    Nur daß diese Lehrerin erstaunlich gut über das Funktionieren unserer Regierung informiert war und sie ebensogut wußte, was daran falsch war. Beeindruckt von ihrer Leidenschaft für ihr Thema saß ich da und lauschte. Als sie plötzlich zu sprechen aufhörte, hätte ich am liebsten applaudiert. Wie schön, daß sie über Armut so gut Bescheid wußte! Ja, in unserem überreichen Land gab es Leute, die hungrig schlafen gingen. Ja, Tausende Kinder hatten nicht die Ansprüche, die ihnen von Natur aus zustanden: das Recht auf genügend Essen, um Körper und Gehirn zu nähren; genug zum Anziehen, um sie warm zu halten; ausreichend Unterkunft, um sie vor schlechtem Wetter zu schützen; genug Ruhe auf einem bequemen Bett, damit sie nicht mit Ringen unter den Augen aufwachten, die vom Schlafen auf dem blanken Boden ohne genug Decken kamen; und vor allem das Recht auf Eltern, die alt und gebildet genug waren, um sie vor allen diesen Dingen zu bewahren.
    »Wo fangen wir also an, alle diese Mißstände zu beseitigen?
    Wie stoppen wir Unwissenheit, wenn sich doch die Unwissenden nicht darum zu scheren scheinen, ob ihre Kinder in denselben armseligen Umständen gefangen bleiben oder nicht? Wie schaffen wir es, daß sich Leute in einflußreichen Positionen der Unterprivilegierten annehmen? Denken Sie heute abend darüber nach und schreiben Sie mögliche Lösungen auf. Erläutern Sie diese dann morgen vor der Klasse.«
    Irgendwie überstand ich den Tag. Kein einziges Mädchen kam mit Fragen zu mir, obwohl mich alle anstarrten. Wenn ich sie aber mit meinen Augen fixierte, sahen sie rasch weg.
    Abends um sechs saß ich allein an einem runden, weißgedeckten Tisch im Speisesaal. Mitten auf meinem Tisch stand eine schmale Silbervase mit einer roten Rose. Die Studenten, die als Bedienung arbeiteten, nahmen meine Bestellung aus einer knappen Speisekarte entgegen und gingen dann zu anderen Tischen weiter. Dort saßen vier, fünf Mädchen lebhaft schnatternd zusammen, so daß der Speisesaal von vielen glücklichen Stimmen hallte. Ich war das einzige Mädchen im Raum mit einer Rose auf dem Tisch. Und erst als ich das merkte, pickte ich von einem dünnen Draht eine kleine weiße Karte, auf der stand: »Herzliche Grüße, Tony.«
    Bis zum Freitag erschien jeden Tag eine rote Rose auf meinem Tisch, und jeden Tag übersahen die Mädchen meine Anwesenheit. Was machte ich bloß falsch, außer die falsche Kleidung zu tragen? Ich hatte keine Jeans, Hosen, alte Hemden oder Pullis mitgebracht. Tapfer versuchte ich die Mädchen, die in meine Richtung schauten, anzulächeln und ihre Augen zu fixieren. Jede drehte den Kopf weg, sobald sie meine Bemühungen bemerkte! Und dann vermutete ich, was vorging.
    Meine Überlegungen zum Hungerproblem in Amerika hatten mich verraten. Meine Begeisterung für dieses Thema hatte ihnen mehr erzählt, als meine Zunge je konnte. Zu gut war ich informiert. Zu viele Nächte war ich in einer Berghütte wachgelegen und versuchte, Antworten zu finden, die alle Armen davor bewahren konnten, in dieselbe verzweifelte Situation wie ihre Vorfahren zu geraten. Für meine Arbeit über Armut in Amerika hatte ich die Note A-minus bekommen – ein ausgezeichneter Start. Aber ich hatte mich selbst betrogen.
    Jetzt kannte jeder meinen Hintergrund, denn anders hätte ich nicht so gut Bescheid wissen können. Tausendmal wünschte ich mir, nicht so wahrheitsgetreu gewesen zu sein und zu einer ähnlichen Lösung wie eines der anderen Mädchen gekommen zu sein. Ihr Vorschlag: »Jeder Reiche sollte wenigstens ein armes Kind adoptieren.«
    Allein lag ich rücklings in meinem hübschen Zimmer auf meinem schmalen Bett. Ich hörte das Lachen und Kichern aus den anderen Zimmern, roch getoastetes Brot und geschmolzenen Käse. Ich hörte das Klirren von Gläsern und Silber und das falsche Gelächter in den Fernsehkomödien.
    Kein einziges Mal klopfte irgendein Mädchen an meine geschlossene Tür, um mich zu einer verbotenen Party

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