Schwarzer Kuss Der Nacht
Adrenalin durch ihren Körper rauschte. Sie stolperte von dem Spiegel zurück, unfähig, die Augen von ihm abzuwenden. Das Gesicht war noch dort. Sie musste jemand anders holen, der es sah. Dieser Gedanke allein trieb sie an, und sie eilte zur Tür hinaus. Bevor das Bild wieder weg war, musste es jemand sehen, der bestätigen konnte, dass sie
nicht
den Verstand verlor.
Sie riss ihre Wohnungstür auf, warf noch einen ängstlichen Blick auf den Spiegel zurück, konnte aber aus diesem Winkel nichts erkennen. Also stürmte sie hinaus auf den Flur und klopfte an Jennas Tür. Immer noch nichts.
Deshalb rannte sie weiter zum Fahrstuhl und hämmerte auf den Knopf ein. Sie würde irgendjemanden aus der Eingangshalle nach oben zerren, wenn sie musste. Kurz bevor der Lift da war, warf sie einen letzten Blick zu ihrer Wohnung zurück, wartete aber nicht einmal, bis die Fahrstuhltüren sich vollständig geöffnet hatten, ehe sie hineinrannte und den Erdgeschossknopf mit voller Kraft drückte. Hände packten sie, und sie schrie auf.
»Hey, ich bin’s nur! Alles okay?«
Sie registrierte die vertraute Stimme, brauchte aber einen Moment, bevor sie aufhören konnte, sich zu wehren. »Will?«
Der Hausmeister lächelte auf sie hinab. »Alles okay? Du wirkst irgendwie aufgelöst.«
Will! Er konnte ein Zeuge sein. Sie packte seinen Arm,zerrte ihn aus dem Fahrstuhl und vergaß ihre persönliche Abneigung. »Schnell! Da ist etwas in meiner Wohnung, das du dir unbedingt ansehen musst!«
»Das ist hoffentlich keine Maus oder Kakerlake. Ich hatte erst vor deinem Einzug den Kammerjäger da.«
»Nein, es ist ein Gesicht. Oder ein Geist. Oder was auch immer.«
Sie schleppte ihn in ihre Wohnung und vor den Spiegel, auf den sie zeigte.
»Ich sehe nix«, sagte er.
»Nein, da war ein Gesicht!« Sie drehte sich zum Spiegel und starrte auf die Fläche, die vollkommen normal aussah.
»Wo?«
»Im Spiegel.« Sie senkte ihren Kopf und starrte auf den Boden. War das peinlich! Warum überraschte es sie eigentlich?
»Ah, klar, jetzt seh ich’s auch.«
»Ja?« Sie wagte kaum, zu hoffen.
»Klar, ist ja da.« Er zeigte auf sein eigenes Spiegelbild und lächelte. Mai ging es daraufhin noch schlechter.
»Es war da«, versicherte sie mehr zu sich selbst, »ein Gesicht. Und der Nebel. Und die Stimme. Es war …« Sie hörte auf zu reden, weil Will sie anstarrte, als wäre sie irre. Vielleicht hatte er recht.
Sie rieb sich die Schläfen, um den Schmerz zu lindern, der sich in ihrem Kopf aufbaute. »Ich weiß, dass ich etwas gesehen habe«, murmelte sie leise.
»Ich glaube dir«, bestätigte er ihr und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Und ich weiß, dass du Angst gekriegt hast. Aber jetzt bist du sicher.« So fühlte sie sich eigentlich nicht, und das musste er gespürt haben. »Soll ich noch ein bisschen bleiben?«
Na prima!
, dachte sie. Sie ließ sich von Will trösten? War die Hölle zugefroren? »Danke, Will«, sagte sie und tauchte unter seinem Arm vor. »Ich denke, es geht schon.«
»Bist du sicher? Mir macht es nichts aus, hierzubleiben – auch die ganze Nacht, wenn’s nötig ist.«
»Wird es nicht sein«, ertönte eine tiefe Stimme von der Tür.
Mai drehte sich um und sah Nick in der Tür stehen. Ihre Erleichterung, ihn zu sehen, überraschte sie selbst.
»Was ist los?«, fragte er, während er auf sie zukam. Ohne nachzudenken, bewegte sie sich auf ihn zu. Und sie war so hilflos, dass sie sich tatsächlich an ihn lehnte, weil sie niemand anders hatte. »Was ist passiert?«, erkundigte er sich leise. »Ist es wegen Sarah?«
»Nein, nein, das nicht.« Ihr fiel der holzige Duft seines Aftershaves auf, den sie genüsslich inhalierte und sich sofort besser fühlte. »Ich dachte, ich hätte etwas im Spiegel gesehen.« Das klang nun wirklich absurd.
»Ich kann dir den Spiegel abnehmen und ihn unten verstauen«, bot Will ihr an.
Mai dachte kurz, sehr kurz darüber nach. Nein, sie musste lernen, ihre Halluzinationen zu beherrschen. Und den Spiegel zu entfernen würde ihr dabei nicht helfen. »Nein, ist schon okay.« Sie nahm noch einen Atemzug von Nicks Duft, um ihn sich einzuprägen. »Mir geht es gut. Danke.«
»Bist du sicher?«, fragte Nick, auf den sie so verloren wirkte, dass er sie am liebsten in seine Arme genommen hätte. Aber in Wirklichkeit war er nun einmal nicht ihr fester Freund. Er tat nur so. Und er fragte sich, wer die Lüge im Moment mehr glaubte: Will oder er. Er fürchtete, dass er die Antwort kannte.
Er
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