Schwarzer Kuss Der Nacht
»Das ist simpel. Wenn man fragen muss, ist esnicht der oder die Richtige. Einen Geistverwandten im Geisterreich zu finden, ist schwierig, allerdings wird es noch hundertfach schwieriger, ihn in der physischen Welt aufzuspüren. Die Träume verraten uns nichts darüber, wo sie sind oder wie sie aussehen.«
»Dann könnte man mit seinem Geistverwandten in einem Raum sein und es nicht einmal merken?« Ihre Blicke begegneten sich, und für einen Moment stand die Zeit still.
»Ich würde sie erkennen, wenn ich sie sehe.« Er klang, als wollte er eher sich selbst als sie überzeugen. Die Reporterin in Mai achtete hingegen mehr auf das, was er nicht sagte.
»Und du hast deine Geistverwandte im Geisterreich gefunden?«
»Nein«, erwiderte er ein bisschen zu energisch. »Ich glaube nicht an das Märchen von zwei Seelen, die in Liebe vereint und glücklich bis an ihr Lebensende sind.«
»Warum nicht?«
»Weil Geistverwandte einen nicht verlassen und einem die halbe Familie wegnehmen.«
Seine Offenheit überraschte sie, aber vor allem spürte sie deutlich, wie sehr er verletzt worden war. »Das tut mir leid«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass du … gebunden warst. Ist das der richtige Ausdruck? Oder dass du Kinder hast.«
»Was? Nein, nicht ich – meine Eltern. Sie waren Geistverwandte, und ich weiß, dass sie sich geliebt haben. Dennoch verließ meine Mutter uns vor fast zwanzig Jahren. Sie nahm sogar meine kleinen Brüder mit. Ich habe sie nie wiedergesehen«, erklärte er, wobei sein Gesicht einen verschlosseneren Ausdruck annahm. »Jedenfalls weißt du jetzt, warum ich nicht an Märchen glaube.«
»Wieso hat sie das getan?«, erkundigte Mai sich, die es wirklich nicht verstand.
»Dieselbe Frage stelle ich mir seit Jahren. Laut dem Brief, den sie hinterließ, hatte meine Mutter Angst um meine Brüder, weil sie als Nullen zur Welt kamen.«
»Als Nullen?«
»Ohne die Fähigkeit, sich zu wandeln oder in die Geistwelt einzudringen. In unserem Stamm gibt es einige abergläubische Mitglieder, die dachten, dass die Zwillinge verhext seien. Sie wollten sie ausschließen lassen. Na ja, und andere meinten, dass es dem Stamm schade, sich mit einer Menschenfrau einzulassen.«
»Das ist ja furchtbar!«
»Ja, für meine Familie war es hart. Mein Vater wollte mit uns allen weggehen. Leider war er der Schamane, und es gab niemanden, der seinen Platz übernehmen konnte. Er ist seinem Schicksal vollkommen ergeben und glaubt fest, dass sein Lebenssinn darin besteht, anderen zu helfen. Wie sehr seine eigene Familie ihn brauchte, hat er schlicht nicht begriffen. Die Stellung des Schamanen wird von Vater zu Sohn weitergegeben, deshalb fing er früh an, mich zu den Leuten mitzunehmen, die ihn riefen. Eines Tages stand uns ein besonders schwieriger Besuch bevor. Wir wussten, dass es den ganzen Tag dauern würde, also brachen wir früh auf.«
Er seufzte. »Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte, als meine Mutter mich überreden wollte, bei ihr zu Hause zu bleiben. Aber ich mochte die Arbeit und hatte keine Lust, stattdessen auf meine beiden kleinen Brüder aufzupassen. Bevor mein Vater und ich losgingen, umarmte sie ihn länger als sonst, und sie sagte mir, dass sie mich liebt. Wir waren den ganzen Tag weg und erst nach Sonnenuntergang zurück. Als wir heimkehrten, war das Haus dunkel und verlassen. Es lag nur der Brief von meiner Mutter da, in dem sie schrieb, dass sie die Zwillinge in eine Umgebung bringenwollte, in der sie nicht verurteilt oder verachtet werden würden, weil sie keine magischen Fähigkeiten besaßen.«
Mai war sprachlos und ahnte, welchen Schmerz Nick bis heute litt. Wie verlassen und verletzt er sich gefühlt haben musste!
»Es fiel ihr sicher alles andere als leicht, das zu tun«, bemerkte sie leise. »Ihr hat es gewiss das Herz gebrochen, dich zurückzulassen.« Mai streckte ihre Hand nach Nicks Arm aus und fragte sich, was sie in einer vergleichbaren Situation tun würde. »Hast du sie je wiedergesehen?«
»Nein. Sie kam nie zurück, und ich habe nicht nach ihr gesucht.«
»Warum nicht?«, wollte Mai wissen, der es unverständlich war.
»Hätte sie mich in ihrem Leben gewollt, wäre sie nicht gegangen.«
»O nein, das glaube ich nicht!«, widersprach Mai. »Keine Mutter würde freiwillig ihr Kind verlassen.«
»Und doch hat meine Mutter genau das getan.«
»Sie muss einen guten Grund gehabt haben, zu gehen.«
»Tja, den werden wir wohl nie erfahren«, entgegnete er schroff, nahm
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