Schwarzer Mittwoch
getötet worden waren, dann rechtfertigte das all seine Unzulänglichkeiten, und er wäre ein Held. Natürlich würde er andernfalls – also wenn er sich irrte – am Ende als einsamer Narr und erbärmlicher Versager dastehen.
Im Grunde brachte es nichts, darüber nachzugrübeln. Er war schon zu weit gegangen und hatte zu viel Arbeit investiert. Nun musste er sich einfach an seinen Instinkt klammern, all seine Zweifel im Zaum halten und stur weitermachen. Seufzend griff er nach seinem kleinen Übernachtungsgepäck, seinem Autoschlüssel und seinen Zigaretten und zog die Tür hinter sich zu – erleichtert darüber, dem Mief und dem Chaos seines Hauses zu entkommen.
Brian und Tracey Gibbs wohnten in dem Bereich von Süd-London, wo der dichte Kernbereich der Stadt langsam ins Vorstädtische überging. Fearby sah auf den ersten Blick, dass die beiden arm waren. Ihre im ersten Stock gelegene Wohnung war klein, und das Wohnzimmer, in das sie ihn führten, gehörte dringend mal gestrichen. Aus dem Polizeibericht wusste er, dass die beiden in ihren Vierzigern waren, doch sie sahen viel älter aus – was ihn plötzlich mit Wut erfüllte. Die gut gestellte Mittelschicht kann dem Zahn der Zeit trotzen, ging ihm durch den Kopf, während Leute wie das Ehepaar Gibbs davon zerfressen und aufgerieben werden. Brian Gibbs war mager und defensiv, seine Frau Tracey kräftiger gebaut und zunächst auch aggressiv. Sie wollte Fearby klarmachen, dass sie ihr Bestes gegeben hatten und ihrem einzigen Kind gute Eltern gewesen waren, die das alles nicht verdienten. Sie hätten nichts falsch gemacht, erklärte sie, es sei nicht ihre Schuld. Ihr Mann saß während der ganzen Zeit stumm neben ihr.
»Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?«, fragte Fearby.
»Vor sechs Wochen. Vielleicht auch ein paar Tage mehr oder weniger.«
»Und wann haben Sie sie als vermisst gemeldet?«
»Vor dreieinhalb Wochen. Wir wussten es ja nicht«, fügte sie schnell hinzu, als müsste sie sich rechtfertigen. »Sie ist schließlich erwachsen. Sie wohnt zwar noch bei uns, kommt und geht aber, wie es ihr beliebt. Oft ist sie tagelang …« Sie zögerte. »Na ja, Sie wissen sicher, wie das ist.«
Fearby nickte. Er wusste es.
»Könnte ich ein Bild von ihr sehen?«
»Da.« Tracey Gibbs deutete auf ein gerahmtes Foto von Sharon: ein rundes, blasses Gesicht, dunkles Haar, zu einem Pagenkopf geschnitten, ein kleiner Schmollmund, der für die Kamera lächelte. Fearby hatte in letzter Zeit zu viele junge Frauen gesehen, die für die Kamera lächelten.
»Wird es für sie ein gutes Ende nehmen?«, wollte Brian Gibbs plötzlich wissen, als wäre Fearby Gott.
»Ich hoffe es«, antwortete er. »Glauben Sie, sie ist freiwillig gegangen?«
»Jedenfalls glaubt das die Polizei«, antwortete die Mutter, nun leicht verbittert.
»Sie nicht?«
»Unsere Tochter ist in schlechte Gesellschaft geraten.«
»Was für eine Gesellschaft?«
»Der Schlimmste von allen war dieser Mick Doherty. Ich habe ihr gesagt, was ich von ihm halte, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
Sie verschränkte die Hände. Fearby registrierte ihren zu engen, etwas einschneidenden Ehering und den abgeblätterten Nagellack. Sie wirkte ungepflegt. Der Pullover von Brian Gibbs hatte Mottenlöcher. Durch die Teetasse, aus der er trank, verlief ein Haarriss, und am Rand war ein kleines Stück herausgebrochen.
»Verstehe.« Er bemühte sich um einen neutralen, aber doch munteren Ton.
»Ich weiß, wo er arbeitet. Die Polizei hat sich nicht für ihn interessiert, aber ich kann Ihnen sagen, wo Sie ihn finden.«
»Gut.«
Er schrieb sich die Adresse auf. Es konnte ja nicht schaden, fand er, außerdem hatte er sowieso nichts anderes mehr zu tun, und auch kein anderes Ziel.
42
K arlsson schlug die Akte auf und warf einen Blick in die Runde. Yvette schrieb etwas in ihr Notizbuch, Riley und Munster starrten gelangweilt vor sich hin, und Hal Bradshaw verschickte gerade eine SMS . Als er Karlssons wütenden Blick bemerkte, legte er das Telefon auf den Tisch, konnte es sich aber nicht verkneifen, hin und wieder einen verstohlenen Blick darauf zu werfen. Karlsson nahm seine Armbanduhr ab und platzierte sie neben der Akte.
»Wir werden genau fünf Minuten darüber sprechen«, verkündete er, »denn mehr ertrage ich nicht, und danach sollten wir alle unseres Weges gehen und versuchen, diesen Fall zu lösen. Wisst ihr, was mir am liebsten wäre? Ich wünschte, Billy Hunt hätte Ruth Lennox getötet und
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