Schwarzer Mittwoch
funktionieren. Sie konnte es sich selbst nicht so recht erklären, hatte aber das Gefühl, dass es ein Verrat an ihrer Freundschaft wäre. Sie brauchte jemand völlig Fremden.
Plötzlich fiel ihr jemand ein. Sie ging zur Mülltonne hinaus und warf die Blumen hinein. Nachdem sie ins Haus zurückgekehrt war, durchwühlte sie ihre Umhängetasche, wurde aber nicht fündig. Als Nächstes versuchte sie es oben in ihrem Arbeitszimmer, wo sie eine bestimmte Schublade ihres Schreibtischs herauszog. Wenn sie in regelmäßigen Abständen ihre Tasche ausmistete, warf sie die Sachen, die dabei zum Vorschein kamen, entweder weg oder bewahrte sie in dieser Schublade auf. Sie ging die alten Postkarten, Quittungen, Briefe, Fotografien und Einladungen durch. Schließlich fand sie, was sie suchte. Eine Visitenkarte. Als Frieda damals vor einen medizinischen Untersuchungsausschuss zitiert worden war, hatte sie in dem Komitee ein altes, gütiges Gesicht entdeckt. Thelma Scott war selbst Therapeutin und hatte in Frieda sofort etwas gesehen, das Frieda am liebsten vor der ganzen Welt versteckte. Sie hatte Frieda eingeladen, jederzeit zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden, falls sie das Bedürfnis haben sollte, und Frieda ihre Karte gegeben. Frieda war sich sicher gewesen, dass sie das Angebot niemals annehmen würde. Sie hatte sich über den Vorschlag sogar ein bisschen geärgert, die Karte aber dennoch aufbewahrt. Nun tippte sie mit fast zitternden Fingern die Nummer.
»Hallo? Ja? Entschuldigen Sie, dass ich Sie um diese Uhrzeit anrufe. Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht mehr an mich. Mein Name ist Frieda Klein.«
»Natürlich erinnere ich mich an Sie.« Ihre Stimme hatte einen energischen, beruhigenden Klang.
»Es ist mir wirklich unangenehm, und wahrscheinlich haben Sie es längst vergessen, aber Sie haben mich irgendwann einmal besucht und mir angeboten, ich könne mich an Sie wenden und mit Ihnen sprechen, wenn ich das Bedürfnis hätte. Deswegen wollte ich jetzt fragen, ob das in nächster Zeit vielleicht möglich wäre. Aber wenn es bei Ihnen nicht passt, ist das auch völlig in Ordnung.«
»Haben Sie morgen Zeit?«
»Ja, ja, das ginge, aber es eilt nicht, ich möchte auf keinen Fall, dass Sie sich meinetwegen irgendwelche Umstände machen.«
»Wie wäre es dann mit übermorgen, nachmittags um vier?«
»Vier Uhr. Ja, dass passt wunderbar. Gut, bis dann.«
»Sie wissen noch gar nicht, wo ich wohne.«
»Stimmt.«
Frieda schrieb sich die Adresse auf. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, zog sie ihren Bademantel aus und legte sich ins Bett. Den Großteil der Nacht lag sie wach, gequält von Gedanken, Gesichtern und Bildern, vagen Beklemmungen und dunkler, pochender Angst. Trotzdem schlief sie am Ende wohl doch ein bisschen, denn irgendwann weckte sie ein Geräusch, das sie zunächst nicht einordnen konnte und dann allmählich als das Läuten ihres Handys identifizierte. Sie tastete danach, sah den Namen Jim Fearby auf dem Display leuchten und ließ es klingeln. Sie war jetzt einfach nicht in der Verfassung, mit ihm zu reden. Sie sank in ihr Kissen zurück und dachte an Fearby. Plötzlich hatte sie das schreckliche Gefühl, einen Moment lang nachvollziehen zu können, wie es wäre, richtig verrückt zu sein – so verrückt, dass man in einer chaotischen Welt seine eigenen, für alle anderen verborgenen Bedeutungen entdeckte. Sie dachte an die gestörten, traurigen Menschen, die sie als Therapeutin um Hilfe ersuchten, und an die noch gestörteren, traurigeren Menschen, denen es so schlecht ging, dass sie, Frieda, nichts mehr für sie tun konnte – Menschen mit Stimmen im Kopf, die ihnen von Verschwörungen erzählten und genau erklärten, auf welche Weise alles einen furchtbaren, beängstigenden Sinn ergab.
Frieda warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst ein paar Minuten nach sieben. Fearby hatte wohl gewartet, bis er es einigermaßen verantworten konnte, bei ihr anzurufen. Sie stand auf und duschte so kalt, dass es schmerzte. Anschließend schlüpfte sie in eine Jeans und ein Shirt und machte sich Kaffee. Essen konnte sie nichts, sie hätte keinen Bissen hinuntergebracht. Was, wenn Fearby ihr eine Nachricht hinterlassen hatte? Selbst die Vorstellung, seine Stimme zu hören, war ihr unangenehm, aber nachdem ihr nun dieser Gedanke gekommen war, machte sie sich noch einmal auf den Weg nach oben, um das Telefon zu holen und ihre Mailbox abzuhören. Wahrscheinlich hat er gar nicht draufgesprochen, dachte sie, doch da
Weitere Kostenlose Bücher