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Schwarzer Mittwoch

Schwarzer Mittwoch

Titel: Schwarzer Mittwoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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wurde ihr das Herz schwer.
    »Warum denn nicht?«
    »Eure Tante ist euer Vormund. Sie wird sich von nun an um euch kümmern.«
    »Bitte! Bitte nimm uns mit!«
    »Setz dich«, sagte Frieda. Sie nahm Doras kleine, knochige Hand zwischen ihre Hände und blickte dem Mädchen in die Augen. »Es tut mir so leid, Dora«, erklärte sie. »Mir tut leid, was mit deiner Mutter passiert ist und was jetzt mit deinem Vater geschieht. Es tut mir leid, dass du hier nicht bei Menschen bist, die du liebst – obwohl ich mir sicher bin, dass deine Tante dich auf ihre Art bestimmt gern hat.«
    »Nein«, flüsterte das Mädchen, »nein, sie mag mich nicht. Sie schimpft mich, weil ich unordentlich bin, und gibt mir die ganze Zeit das Gefühl, dass ich ihr lästig bin. Vor ihr kann ich nicht einmal weinen. Sie regt sich über alles auf, was ich mache.«
    »Eines Tages«, tastete Frieda sich langsam vor, »eines Tages wird das Ganze für dich hoffentlich einen Sinn haben. Im Moment kommt dir bestimmt alles wie ein schrecklicher Albtraum vor. Aber glaub mir, diese schlimmen Tage werden vergehen. Ich sage nicht, dass es dann nicht mehr wehtun wird, aber der Schmerz wird leichter zu ertragen sein.«
    »Wann kommt Dad zurück?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Ihre Beerdigung ist nächsten Montag. Kommst du auch?«
    »Ja, ich werde da sein.«
    »Kannst du dann neben mir sitzen?«
    »Deine Tante …«
    »Wenn Tante Louise von ihr spricht, zieht sie immer so ein fürchterliches Gesicht, als hätte sie einen schlechten Geschmack im Mund. Und Ted und Judith sind so wütend auf sie, aber …« Sie brach ab.
    »Sprich weiter«, munterte Frieda sie auf.
    »Ich weiß, dass sie ein Verhältnis hatte. Ich weiß, dass sie etwas Falsches gemacht und Dad betrogen und uns alle belogen hat. Aber so denke ich nicht an sie.«
    »Erzähl mir, wie du an sie denkst.«
    »Wenn ich krank war, saß sie oft stundenlang bei mir am Bett und las mir etwas vor. Und morgens, wenn sie mich aufweckte, hat sie mir immer Tee in meiner Lieblingstasse gebracht und mir die Hand auf die Schulter gelegt und gewartet, bis ich richtig wach war. Dann hat sie mir einen Kuss auf die Stirn gegeben. Sie war morgens immer schon geduscht, so dass sie ganz sauber und frisch roch, nach Zitronen.«
    »Das ist eine gute Erinnerung«, sagte Frieda. »Woran erinnerst du dich noch?«
    »Als ich in der Schule schikaniert wurde, war sie der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich darüber reden konnte. Ihr gegenüber habe ich mich nicht so geschämt. Einmal, als es besonders schlimm war, brauchte ich nicht in die Schule zu gehen. Sie hat mir erlaubt, bei ihr zu Hause zu bleiben. Wir hielten uns stundenlang im Garten auf und haben zusammen die verblühten Köpfe der Rosen abgeschnitten. Ich weiß nicht, warum mir das geholfen hat, aber danach fühlte ich mich besser. Sie hat mir erzählt, dass sie selber in der Schule auch mal schikaniert wurde, und hat gesagt, ich müsse einfach bleiben, wie ich bin, freundlich und lieb.«
    Inzwischen hatte Dora Tränen in den Augen.
    »Für mich klingt das nach einer wunderbaren Mutter«, erklärte Frieda. »Ich wünschte, ich hätte sie gekannt.«
    »Sie fehlt mir so sehr, dass ich sterben möchte. Ich möchte sterben .«
    »Ich weiß«, sagte Frieda, »ich weiß, Dora.«
    »Warum hat sie …?«
    »Hör zu. Die Menschen sind sehr kompliziert. Sie können viele verschiedene Personen gleichzeitig sein. Sie können anderen Schmerz zufügen und trotzdem lieb und mitfühlend sein. Lass dir deine Erinnerungen an deine Mutter nicht nehmen. So war sie für dich – das ist das Einzige, was zählt. Sie hat dich geliebt. Sie mag ja ein Verhältnis gehabt haben, aber das ändert nichts an den Gefühlen, die sie für ihre Kinder empfand. Lass sie dir von niemandem wegnehmen.«
    »Tante Louise sagt …«
    »Zum Teufel mit Tante Louise!«
    Ted stand in der Tür. Sein strähniges Haar wirkte fettig, und die fahle Blässe seines Gesichts ließ Frieda an Pilze denken. Er hatte violette Augenringe und einen pickeligen Ausschlag am Hals. An seinem Kinn entdeckte sie den ersten Flaum eines Jungmännerbarts. Er trug noch dieselben Sachen wie am Vortag. Frieda fragte sich, ob er überhaupt ins Bett gekommen war, geschweige denn zum Schlafen. Als er näher trat, schlug ihr ein Geruch aus Schweiß und Tabak entgegen. Es war ein herbes Aroma – ungewaschen, ein bisschen wie Hefe.
    »Was willst du hier? Hältst du es ohne uns nicht aus?«
    »Hallo, Ted.«
    Ted machte eine Kopfbewegung in

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