Schwarzer Mittwoch
ziemlich zugewachsenen Pfad hinauf, wo sie mit ihren nassen Füßen wieder in ihre Sandalen schlüpfte. Hier war alles grün und wild, ein Dickicht aus Ranken, Nesseln und Wiesenkerbel. Es roch nach Gras und feuchtem altem Laub. Frieda marschierte los.
Der geheime Fluss verengte sich zu einem schmalen Band aus braunem Wasser. Frieda hielt mit seinem Tempo Schritt und beobachtete, wie immer wieder schimmernde Luftblasen aufstiegen und an der Oberfläche zerplatzten. Mit ihnen sah sie Jim Fearbys Gesicht aufsteigen. Seine toten Augen starrten sie an. Was war ihm als Letztes durch den Kopf gegangen? Sie wünschte so sehr, er wäre lange genug am Leben geblieben, um noch zu erleben, dass er gewonnen hatte. Auch das Gesicht von Josef tauchte vor ihr auf. Er war bereit, sein Leben für sie opfern, während sie selbst ihr Leben manchmal am liebsten ohne jeden Grund hingeworfen hätte – wäre ihr das nicht wie ein Sakrileg erschienen.
Ein kleines Stück in die andere Richtung verschwand der Wandle auf Nimmerwiedersehen im Boden, in einem Netzwerk unterirdischer Quellen, wo er sich seinen Weg durch die Erde grub. Von hier aber schlängelte er sich in Richtung Norden, begleitet von dem schmalen, mittlerweile fast zugewachsenen Weg. Nesseln ließen Friedas Füße brennen, und herabhängende Zweige strichen ihr über die Wangen, so dass sie das Gefühl hatte, sich in einem Tunnel aus grünem Licht zu befinden. Ein scheußlicher, leicht süßlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Irgendwo in der Nähe musste ein totes, bereits verwesendes Tier liegen. Ihr ging durch den Kopf, wie sehr dieser kleine Fluss sich in früheren Zeiten abgemüht hatte. Damals war er voller Fäkalien, Gift und Tod gewesen, eine verhärtete Arterie, verstopft mit Müll. An seinen Ufern hatte es Wassermühlen und Gerbereien gegeben, Lavendelfelder und Teiche mit Wasserkresse – Fäkalien, Chemikalien und Blumen. Das alles war längst verschwunden, zerstört und begraben unter Beton und Wohnsiedlungen. Zu ihrer Linken konnte Frieda durch das grüne Gewirr eine verlassene Lagerhalle erkennen, dann eine hässliche Ansammlung von Leichtindustriebetrieben, einen leeren Parkplatz, schließlich eine Müllkippe, die aus den Schatten der Dämmerung aufragte. Der kleine Fluss aber schlängelte sich einfach weiter, schnell und klar führte er Frieda heraus aus dem Labyrinth.
Nach einer Weile verbreiterte er sich und wurde wieder langsamer. Aus seinem dahinströmenden Wasser stiegen erneut Gesichter zu Frieda auf – Gesichter junger Frauen, mit Wasserpflanzen statt Haaren. Sie riefen um Hilfe. Zu spät. Nur Sharon Gibbs war gerettet worden. Frieda hörte sie wieder wimmern wie ein Tier und roch ihr sterbendes Fleisch. Vor ihrem geistigen Auge sah sie das dunkle Kellerloch, Ratten mit gelben Zähnen. Was hatten sie ihr angetan, und was hatte sie dabei gefühlt? Sie selbst, Frieda, hatte in seinem Garten Tee mit ihm getrunken, ihn freundlich angelächelt. Sie hatte seine Hand geschüttelt – was hatte diese Hand getan? Seine eigene Tochter. Lily. Lila. Ein wildes Kind. All diese wilden Kinder. Verlorene junge Frauen. Wie viele von ihnen gab es noch in ihren eigenen Unterwelten?
Sie sah das junge Gesicht von Ted und dann die Gesichter von Dora und Judith – mutterlose, vaterlose Kinder, die sich nach Liebe und Geborgenheit sehnten. Aus ihrem Zuhause gerissen. Allein gelassen vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Was hatte sie getan? Wie sollte sie mit dem Schaden, den sie angerichtet hatte, weiterleben? Konnte sie diese Bürde überhaupt tragen? Bis ans Ende ihrer Tage?
Inzwischen wurde der Fluss von betonierten Ufern gezähmt, und plötzlich war der Pfad eine Straße, die entlang einer roten, mit Stützen versehenen Ziegelmauer verlief. Schlagartig fühlte Frieda sich in die Vergangenheit zurückversetzt, in ein Dorf auf dem Land. Neben ihr ragte eine graue Kirche auf, umgeben von Gräbern, die sich in der Enge eines kleinen Friedhofs aneinanderdrängten. Friedas Blick fiel auf einen Grabstein mit dem Namen eines Jungen im Teenageralter, gefallen im Ersten Weltkrieg. Einen Moment kam es ihr vor, als würde sich eine Gestalt vom Boden erheben, aber es war nur der sterbende Tag, der ihr einen Streich spielte. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, und auch keine Lust, ihr Handy einzuschalten, um nachzusehen. Es spielte sowieso keine Rolle. Sie hatte nichts dagegen, noch den ganzen Abend so dahinzuwandern, hinein in die Nacht. Am liebsten wäre sie tagelang
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