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Schwarzer Mittwoch

Schwarzer Mittwoch

Titel: Schwarzer Mittwoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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weitergegangen, ohne stehen zu bleiben. Der Schmerz in ihren Beinen und Lungen tat ihr gut – besser als der Schmerz in ihrem Herzen.
    Aber wohin war ihr Fluss verschwunden? Man hatte ihn ihr weggenommen. Sie stolperte, spürte scharfe Kiesel unter ihren Sohlen. Vor ihr erstreckte sich ein Park. Sie steuerte auf eine Allee zu, gesäumt von großen Bäumen. Nach einer Weile entdeckte sie ein Stück weiter vorne eine kleine Steinbrücke. Sie hatte ihn wiedergefunden. Er brachte sie zu einem Teich: Libellen in der Dämmerung, eine Kindersandale auf einer Bank. Dann aber führte er sie zu einer Straße und verschwand wieder. An Frieda brauste ein Auto vorbei, aus dem laute Bässe drangen, dann ein Motorradfahrer in schwarzer Lederkluft, windschnittig über seine Maschine gebeugt. Frieda war in einem Korridor schäbiger Häuser und Wohnungen gelandet, doch sie lief einfach weiter in die Richtung, in die der Fluss geflossen war, und nach ein paar Minuten tauchte er wieder auf – fröhlich plätschernd, als hätte er sie nur ein wenig necken wollen. Ihr Weg führte sie an etlichen Gebäuden vorbei, darunter auch vielen kleineren Häuschen, bis sie schließlich eine alte Mühle erreichte und sich plötzlich auf einem zugewachsenen Pfad von der Straße wegbewegte. Während sie diesen geheimen Gang entlangmarschierte, hatte sie das Gefühl, als bliebe die Stadt hinter ihr zurück. Man konnte drei Meter entfernt stehen, ohne das Geringste von der Existenz des verborgenen Pfades zu ahnen. Man konnte sich hier verstecken und hinausspähen, ohne gesehen zu werden. Wie ein Geist.
    Zu viele Geister. Zu viele Tote in ihrem Leben. Eine ganze Schar, die sich hinter ihrem Rücken versammelt hatte. Ihr eigener Geist, jung und erwartungsvoll. Man beginnt die Reise voller Ignoranz und Hoffnung, ging ihr durch den Kopf. Ihr Vater. Manchmal konnte sie ihn immer noch sehen, nicht nur in ihren Träumen, sondern irgendwo unter den Gesichtern, die ihr auf der Straße begegneten. Sie wollte ihm unbedingt etwas sagen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, was. Um sie herum wurde es dunkel. Ihr Kopf war erfüllt von den Farben des Schmerzes.
    Vorbei an einer alten, leer stehenden Lagerhalle, die in einem hässlichen Blauton gestrichen und mit Graffiti übersät war. Dort wäre auch ein guter Platz zum Verstecken. Vielleicht war sie ebenfalls voller Leichen oder vermisster Personen. Man konnte nicht überall nachschauen. Das nahm kein Ende, es gab immer wieder welche, und sie war müde. Übermannt von einer Müdigkeit, die nichts Weiches, Diffuses hatte, sondern scharfe Kanten. Müdigkeit wie ein Messer, ein mahlender Mühlstein. Sharon Gibbs lebte, aber Lila war tot. Genau wie die anderen. Knochen in einem nährstoffreichen Boden, der einen Garten voller Blumen sprießen ließ.
    Der schmale Pfad wurde zu einem breiten Weg. Der Fluss strömte inzwischen langsam und braun dahin. Wenn sie sich hier hinlegte, würde sie je wieder aufstehen? Wenn Sandy da wäre, würde sie ihm dann sagen, was sie empfand? Wenn Sasha hier wäre, könnte sie dann endlich weinen? Oder schlafen? Wann würde sie jemals wieder schlafen? Schlafen bedeutete loslassen. Die Toten loslassen, die Geister, sich selbst.
    Kräne. Große Disteln. Ein verlassener Schrebergarten mit seltsamen kleinen Schuppen, die neben dem Fluss allmählich in sich zusammenfielen. Ein räudig aussehender Fuchs mit einem dünnen Schweif. Schnell wie ein Schatten, unterwegs durch die Schatten. Sie mochte Füchse. Füchse, Krähen, Eulen. Ein Vogel huschte vorbei, nein, vermutlich eine Fledermaus, denn inzwischen war es Nacht. Wie lange war sie schon unterwegs? Der Fluss wies ihr noch immer den Weg. Der Mond ging auf, und alle, die sie kannte, standen in weiter Entfernung: Reuben, Sasha, Olivia. Chloë, Josef, Sandy, Karlsson. Ihre Patienten waren reduziert auf eine einzelne Person, die in gebückter Haltung in einem Sessel saß und darum bat, vor sich selbst gerettet zu werden. Dean Reeve stand in einer Ecke und blickte in ein Fenster. Sie hörte seine Schritte, wenn niemand da war, und jedes Mal hinterließ er einen ekelhaften Geruch nach Lilien und Tod. Für sie war er realer als alle anderen.
    Sie wusste selbst nicht mehr, warum sie immer noch einen Fuß vor den anderen setzte und dabei ein- und ausatmete, als besäße ihr Körper noch die Willenskraft, die ihr Geist längst verloren hatte. Sie war am Ende. Ihre Lebensgeister waren am Versiegen.
    Auf einmal aber wurde der Fluss immer breiter,

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