Schwarzer Mittwoch
meinte sie oft, »du kannst einfach nicht loslassen.« Journalistenkollegen sagten das Gleiche, manchmal bewundernd, manchmal ungläubig oder sogar verächtlich, und in letzter Zeit meist mit einem Kopfschütteln: der alte Jim Fearby und seine Vorstellungen. Fearby war es egal, was sie dachten. Er rollte einfach so lange seinen Stock, bis eine Glut entstand und zu einer Flamme anwuchs. Mit George Conley war es auch so gewesen. Niemand sonst hatte einen Gedanken an Conley verschwendet oder ihn auch nur als menschliches Wesen betrachtet, aber in Jim Fearby, der damals jeden einzelnen Tag des Prozesses im Gerichtssaal mitverfolgte, hatte er einen Funken entzündet. Vor allem die Passivität des Angeklagten berührte Fearby: Conley war wie ein misshandelter Hund, der nur auf den nächsten Schlag wartete. Er begriff nicht, was mit ihm geschah, wirkte deswegen aber auch nicht überrascht. Vermutlich war er sein ganzes Leben lang schikaniert und gehänselt worden, so dass er nicht mehr genug Hoffnung in sich spürte, um sich zu wehren. Fearby benutzte niemals Worte wie »Gerechtigkeit«, sie waren zu großspurig für einen alten Schreiberling wie ihn. Trotzdem erschien es ihm nicht gerecht, dass dieser Trauerkloß von einem Mann niemanden hatte, der für seine Sache kämpfte.
Als Jim Fearby vor Jahren – das war 2005 gewesen – zum ersten Mal George Conley im Gefängnis besuchte, bescherte ihm die Erfahrung Albträume. Dabei war die Haftanstalt Mortlemere, die unten in Kent an der Themsemündung lag, gar kein so übler Ort, und Fearby wusste selbst nicht recht, was genau ihm dort so unter die Haut gegangen war. Vielleicht die resignierten, müden Gesichter der Frauen und Kinder im Warteraum. Er hatte die Ohren gespitzt, um herauszufinden, welchen Dialekt sie sprachen. Demnach waren einige von ihnen quer durchs ganze Land gereist. Bedrückend empfand er auch den Geruch von Feuchtigkeit und Desinfektionsmitteln. Fearby fragte sich, welche anderen Gerüche die Desinfektionsmittel wohl überdecken sollten. Letztendlich aber lag es – wie er sich eingestehen musste – vor allem an den vielen Schlössern, Gitterstäben, hohen Mauern und Stacheldrähten. Er fühlte sich wie ein Kind, das nie so richtig begriffen hatte, was ein Gefängnis eigentlich bedeutete. Die wahre Strafe bestand darin, dass die Türen verschlossen waren und man nicht gehen konnte, wann man wollte.
Während des Prozesses hatte der bedauernswerte kleine Conley angesichts von so viel Aufmerksamkeit einen erstaunten, fast schon betäubten Eindruck gemacht. Als Fearby ihn zum ersten Mal im Gefängnis traf, wirkte er bleich und völlig am Boden zerstört. »Das ist nur der Anfang«, sagte Fearby zu ihm, aber Conley schien ihm gar nicht richtig zuzuhören.
Fearby hatte auf seiner Straßenkarte gesehen, dass Mortlemere neben einem Vogelschutzgebiet lag, deswegen parkte er nach seinem Besuch den Wagen und wanderte einen Pfad am Wasser entlang – hauptsächlich, damit der kalte Nordwind den schalen Gefängnisgeruch aus seiner Kleidung blasen konnte. Trotzdem wurde er irgendwie den Gestank nicht los, und in der nächsten Nacht und vielen weiteren Nächten träumte er von Gefängnistoren, Gitterstäben, Schlössern und verlorenen Schlüsseln. Im Traum war er selbst eingesperrt und versuchte durch eine Glasscheibe auf die Welt hinauszublicken, doch das Glas war so dick, dass er außer schemenhaften Formen nichts erkennen konnte.
Im Lauf der Jahre, in denen er zahllose Artikel und schließlich sein Buch Blinde Justitia schrieb, hatte er Conley in Gefängnissen in ganz England besucht, oben in Sunderland, unten in Devon, an der M25. Als er ihn nun in der Haftanstalt Haston bei Derby aufsuchte, nahm Fearby seine Umgebung kaum noch wahr. Das Parken, die Registrierung, die Vielzahl von Türen, durch die man geschleust wurde, das alles war für ihn längst Routine, eher lästig als traumatisch. Die Wärter kannten ihn, wussten, warum er hier war, und behandelten ihn – und inzwischen auch Conley – größtenteils mit Wohlwollen.
Im Lauf der Jahre hatte Fearby von Insassen gehört, die das Gefängnis als eine Art Schule nutzten. Manche mussten erst lesen lernen, manche machten ihr Abitur und erwarben sogar akademische Grade. Conley aber war nur noch beleibter, blasser und trauriger geworden. Mittlerweile schien er völlig am Ende zu sein. Sein dunkles Haar wirkte fettig und schlaff, und von einem Augenwinkel zog sich eine lange, gezackte Narbe nach unten, das
Weitere Kostenlose Bücher