Schwarzer Mittwoch
endlich loslassen konnte. Schließlich war sie nur ein Lügenmärchen gewesen, zusammengesetzt aus groben Klischees, mit dem Ziel, ihr eine Falle zu stellen und sie möglichst dumm und inkompetent dastehen zu lassen. Sie sollte sich eigentlich wütend und gedemütigt fühlen, doch stattdessen war sie beunruhigt und kribbelig. Wenn sie nachts aufwachte, verbissen sich ihre Gedanken sofort wieder in die Geschichte. Es war, als würde jemand ganz schwach, aber beharrlich an dem Faden ziehen.
Singh traf pünktlich ein. Er trug auch an diesem Tag seine dicke schwarze Jacke. Genau genommen schien er noch exakt dieselben Sachen zu tragen, in denen Frieda ihn zuletzt gesehen hatte. Sein Gesicht wirkte vor Müdigkeit ganz schlaff. Er ließ sich Frieda gegenüber auf den Stuhl fallen, als wäre er tatsächlich zu einer Therapiesitzung gekommen.
»Danke«, sagte er.
»Wofür?«
»Dass Sie sich Zeit nehmen.«
»Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich Sie gebeten, sich bei mir zu melden.«
»Ja, aber letztendlich wurden Sie von uns doch übel verarscht.«
»Empfinden Sie das inzwischen so?«
»Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber nach der ganzen Berichterstattung in der Presse fühlte ich mich schon ein bisschen mies.«
»Weil Sie das Gefühl hatten, sich falsch verhalten zu haben?«
»Anfangs hielt ich das Ganze für eine gute Idee. Ich meine, wie kann man einem Therapeuten auf die Finger schauen? Lehrer werden von Schulinspektoren kontrolliert, aber Therapeuten können in der Abgeschiedenheit ihrer kleinen Sprechzimmer nach Lust und Laune Schaden anrichten, ohne dass jemand davon erfährt. Und wenn der Patient nicht zufrieden ist, dann können die Therapeuten einfach den Spieß umdrehen: Wenn Ihnen etwas nicht passt, dann liegt das nicht an mir, sondern daran, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. – Es handelt sich um ein System, das sich aus sich selbst heraus rechtfertigt.«
»Das klingt alles nicht nach Ihnen, sondern nach Hal Bradshaw. Was nicht grundsätzlich heißen muss, dass es falsch ist. Es ist in der Tat schwierig, einem Therapeuten auf die Finger zu schauen.«
»Ja, aber nachdem die Studie so viel Aufmerksamkeit von den Medien bekam, fühlte sich das Ganze plötzlich nicht mehr richtig an. Alle fanden es lustig, doch als ich Sie dann kennenlernte …«
Er hielt inne.
»Da bin ich Ihnen nicht ganz so verrückt vorgekommen, wie Bradshaw mich dargestellt hatte?«
Singh schien sich unbehaglich zu fühlen. Verlegen rutschte er auf seinem Stuhl herum und rieb sich über die stoppeligen Wangen. »Er hat gesagt, Sie seien ein Pulverfass. Sie – und andere wie Sie – könnten eine Menge Schaden anrichten.«
»Und deswegen hat er sich zum Ziel gesetzt, uns auf die Finger zu schauen?«
»Ich nehme an, dass er es so sieht. Aber deswegen bin ich nicht hier. An dem, was geschehen ist, kann ich nichts mehr ändern. Sie hatten mich gebeten, mich bei Ihnen zu melden, wenn ich Ihnen noch etwas zu sagen hätte.«
»Und das ist nun der Fall?«
»Ja, ich denke schon. Ich bin, ähm, wie soll ich es ausdrücken? Mir geht es zurzeit nicht besonders – wie Sie ja selbst schon bemerkt haben. Meine Arbeit macht mir nicht so viel Spaß, wie ich dachte – ich dachte, es gebe mehr Seminare, Diskussionen und Forschungsgruppen und solche Sachen –, aber in Wirklichkeit sitze ich meistens in der Bibliothek.«
»Allein.«
»Ja.«
»Und privat sind Sie auch allein?«
»Sie fragen sich wahrscheinlich, was das alles mit der Geschichte zu tun hat.«
»Erzählen Sie es mir.«
Singh blickte zu Boden. Er schien zu überlegen.
»Ich war in einer Beziehung«, erklärte er schließlich, »sogar recht lange, zumindest für meine Verhältnisse. Ich hatte noch nicht so viele … egal, das ist nicht so wichtig. Wir waren ziemlich genau anderthalb Jahre zusammen. Sie hieß Agnes. Heißt sie immer noch. Sie ist nicht gestorben, aber es ging trotzdem nicht gut, und das Ende war auch eher unschön. Doch deswegen bin ich nicht hier. Agnes ist diejenige, von der das Detail mit dem Haareschneiden stammt, das Sie erwähnt haben – auch wenn ich nicht weiß, warum Sie das so interessiert. Das Ganze war nur eine Geschichte. Ich hatte die Aufgabe, den Text für uns alle zusammenzustellen, und fand, dass ihm ein bisschen Farbe fehlte. Da ist mir diese kleine Episode eingefallen, keine Ahnung, warum. Jedenfalls habe ich sie eingebaut.«
»Dann war also Ihre Exfreundin diejenige, die ihrem Vater die Haare schnitt und Ihnen davon
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