Schwarzer Mond: Roman
weit entfernt war: »Ein Mann ist getötet worden! Mord! Sie müssen mitkommen! Mord!«
Als der Polizist jedoch mit einem besorgten Ausdruck auf seinem breiten irischen Gesicht auf sie zukam, sah sie die leuchtenden Messingknöpfe an seiner schweren Winteruniform, und alles war wieder vergebens gewesen.
Sie sahen nicht genauso aus wie die Knöpfe am Ledermantel von Pablos Mörder; sie waren nicht mit aufgerichteten Löwen, sondern mit irgendwelchen anderen erhabenen Gestalten geschmückt. Aber ein flüchtiger Blick auf diese Knöpfe löste bei ihr eine Gedankenassoziation an andere Knöpfe aus, die sie damals gesehen hatte, während der mysteriösen Vorgänge im Tranquility Motel. Sie war nahe daran, sich an Verbotenes zu erinnern, und das löste wieder den Asrael-Drücker aus.
Als sie jede Kontrolle über sich verlor und in ihre private Finsternis hineinrannte, hörte sie als letztes ihren eigenen verzweifelten Aufschrei.
Am kältesten.
An diesem Januarvormittag war Boston zumindest für Ginger Weiss der kälteste Ort der Welt. Als der Anfall vorüber war, saß sie in Eis und Schnee auf dem Boden. Ihre Hände und Füße waren taub vor Kälte. Ihre Lippen waren rau und rissig.
Diesmal hatte sie in dem engen Zwischenraum zwischen einer korrekt gestutzten Hecke und einem Ziegelgebäude Zuflucht gesucht, in einer dunklen Ecke, wo Hauptfassade und ein vorgebauter Turm aufeinandertrafen. Das ehemalige Hotel Agassiz, in dem Pablo seine Wohnung hatte. Wo er ermordet worden war. Sie hatte also einen Kreis beschrieben und war an ihren Ausgangsort zurückgekehrt.
Sie hörte, dass jemand sich näherte. Zwischen den mit Schnee und Eis bedeckten weißen Zweigen der Büsche hindurch konnte sie sehen, dass jemand über den niedrigen gusseisernen Zaun stieg, der den Rasen vom Gehweg trennte. Sie konnte die Person selbst nicht sehen, nur die Stiefel, Beine in blauen Hosen und das untere Stück einer langen, schweren navy-blauen Jacke.
Aber während er über den schmalen Rasenstreifen auf die Hecke zukam, wusste sie schon, wer es war: der Verkehrspolizist, vor dem sie weggerannt war.
Ginger schloss die Augen, weil sie befürchtete, beim Anblick seiner Uniformknöpfe wieder einen Anfall zu bekommen.
Vielleicht waren nicht wiedergutzumachende psychologische Schäden ein Nebeneffekt der Gehirnwäsche, eine unvermeidliche Folge der enormen Spannung, die von den künstlich unterdrückten Erinnerungen erzeugt wurde, die mit aller Kraft in ihr Bewusstsein durchzubrechen versuchten. Selbst wenn sie einen anderen Hypnotiseur finden könnte, der bereit wäre, ihr zu helfen, so wie Pablo das getan hatte - vielleicht gab es überhaupt keine Möglichkeit, die Gedächtnisblockade niederzureißen. Und in diesem Fall würde ihr Zustand sich unweigerlich immer mehr verschlimmern. Wenn sie im Laufe eines Vormittags drei Anfälle erlitten hatte, war es durchaus möglich, dass sie in der nächsten Stunde drei weitere haben würde.
Die Stiefel des Polizisten knirschten auf dem Harsch. Er blieb vor ihr stehen. Sie hörte, wie er die Büsche zur Seite schob, um in ihr Versteck blicken zu können.
»Miss? He, was ist passiert? Was haben Sie da vorhin von Mord geschrieen? Miss?«
Vielleicht würde sie bei der nächsten Fugue nie wieder das Bewusstsein zurückerlangen.
»Na, na, warum weinen Sie denn?« sagte der Polizist mitfühlend. »Ich kann Ihnen doch nicht helfen, Kindchen, wenn Sie mir nicht sagen, was passiert ist.«
Sie wäre nicht Jacobs Tochter gewesen, wenn sie auf Freundlichkeit und Güte anderer nicht sofort begierig reagiert hätte, und die besorgte Stimme des Polizisten wärmte ihr Herz. Sie öffnete die Augen und betrachtete den obersten Messingknopf seiner Uniformjacke. Diesmal brachte der Anblick nicht die verhasste Finsternis über sie. Aber das hatte nichts zu bedeuten, denn auch des Ophthalmoskop, die schwarzen Handschuhe und die übrigen Dinge, die bei ihr zunächst einen Anfall ausgelöst hatten, hatten sie bei späterer Betrachtung nicht mehr in Panik versetzt.
Der Polizist zwängte sich durch die Hecke.
»Sie haben Pablo umgebracht«, sagte sie. »Sie haben Pablo ermordet!«
Und als sie diese Sätze aussprach, gesellten sich zu ihrer Verstörung über ihren Geisteszustand noch heftige Schuldgefühle.
Der 6. Januar würde für immer ein schwarzer Tag in ihrem Leben bleiben. Pablo war tot. Weil er versucht hatte, ihr zu helfen.
Ein so schrecklich kalter Tag.
5. Unterwegs
Am Montag, dem 6. Januar, fuhr Dom Corvaisis
Weitere Kostenlose Bücher