Schwarzer Mond: Roman
suchte nach ihr, und wenn sie ihr Versteck verließ, würde die Jagd von neuem beginnen.
Sie war überrascht, dass sie die eisverkrustete Feuertreppe hinabgehastet und dann irgendwie hierher geflüchtet war, ohne sich dabei den Hals zu brechen. Offenbar hatte sie während ihrer Fugue, wenn sie einem zu Tode geängstigten, völlig kopflosen Tier glich, wenigstens auch eine instinktive animalische Schnelligkeit und Sicherheit der Bewegungen.
Wie zwei fleißige Leichenbestatter, so saugten Wind und Kälte die Körperwärme aus ihr heraus. Die schmale graue Betontreppe glich mehr und mehr einem deckellosen Sarkophag. Ginger beschloss, dass es höchste Zeit war aufzubrechen. Sie erhob sich langsam. Der kleine Hinterhof war menschenleer, und auch sonst war nirgends jemand zu sehen.
Verkrusteter Schnee. Einige kahle Bäume links und rechts. Nichts Bedrohliches. Zitternd und schniefend, stieg Ginger die Treppe hinauf und ging den mit Ziegeln gepflasterten Weg entlang, der von der Rückfront des Hauses zum Tor führte.
Sie beabsichtigte, auf die Newbury Street zurückzukehren und von der nächsten Fernsprechzelle aus die Polizei anzurufen, aber als sie das Tor erreichte, vergaß sie schlagartig diesen Plan.
Auf beiden Torpfosten war eine gusseiserne Kutschlaterne mit bernsteinfarbenen Glasscheiben angebracht. Entweder hatte man sie aus Versehen brennen lassen, oder aber sie wurden von Solenoiden eingeschaltet, die den düsteren Wintervormittag mit der Abenddämmerung verwechselt hatten. Es waren elektrische Lampen, aber sie waren mit jenen flackernden Birnen ausgestattet, die Gasflammen imitieren sollten, und durch das tanzende Licht schillerte das bernsteinfarbene Glas und wirkte gespenstisch lebendig. Beim Anblick dieser flimmernden gelblichen Laternen hielt Ginger den Atem an, und erneut stieg unvernünftige Panik in ihr auf.
Nein! Nicht schon wieder!
O doch!
Doch.
Der Nebel.
Leere.
Finsternis.
Kälter.
Ihre Hände und Füße fühlten sich taub an.
Offensichtlich befand sie sich wieder auf der Newbury Street.
Sie war unter einen geparkten Lastwagen gekrochen. ImHalbdunkel unter der Ölwanne liegend, spähte sie aus ihrem Versteck hervor und sah die abgestellten Autos auf der anderen Straßenseite.
Ihr Versteck!
Jedesmal, wenn sie nach einer Fugue zu sich kam, versteckte sie sich vor etwas unvorstellbar Schrecklichem.
Heute versteckte sie sich natürlich vor Pablos Mörder. Aber an den anderen Tagen? Wovor hatte sie sich damals versteckt? Sogar jetzt versteckte sie sich nicht nur vor dem Mörder, sondern noch vor etwas anderem, das sich qualvoll ihrer Erinnerung entzog. Etwas, das sie in Nevada gesehen hatte. Irgend etwas.
»Miss? Hallo, Miss?«
Ginger erstarrte beim Klang dieser Stimme. Ein Mann kauerte auf Händen und Füßen hinter dem LKW. Im ersten Augenblick befürchtete sie, es sei Pablos Mörder.
»Miss? Was ist los?«
Es war nicht der Killer. Vermutlich hatte er die Suche nach ihr aufgegeben, als er sie nicht gleich finden konnte, und war geflüchtet. Diesen Mann hatte sie nie zuvor gesehen, und noch nie hatte sie sich über das Gesicht eines wildfremden Menschen so gefreut.
»Was zum Teufel machen Sie da unten?« rief er.
Ginger verspürte starkes Selbstmitleid. Sie begriff, welchen Anblick sie geboten haben musste, als sie wie eine Wahnsinnige durch die Gegend gehastet war. Man hatte ihr jede Würde geraubt.
Sie kroch auf den Mann zu, griff nach der behandschuhten Hand, die er ihr entgegenstreckte, und ließ sich von ihm helfen, unter dem LKW hervorzukommen, der sich als Möbelwagen der Umzugsfirma Mayflower erwies. Die Hintertüren waren geöffnet. Sie warf einen Blick hinein und sah Möbel und Kartons.
Der Mann, der sie herausgezogen hatte, war jung, kräftig und trug einen gesteppten Overall mit dem Mayflower-Namenszug auf der Brust.
»Was ist los?« fragte er. »Vor wem verstecken Sie sich?«
Während er noch redete, entdeckte Ginger auf der nächsten Kreuzung, die etwa einen halben Block entfernt war, einen Verkehrspolizisten. Sie rannte auf ihn zu.
Der Mayflower-Mann rief hinter ihr her.
Sie war überrascht, dass sie überhaupt rennen konnte, denn ihr taten sämtliche Knochen weh. Trotzdem rannte sie mit traumhafter Mühelosigkeit gegen den heulenden Wind an. Die Rinnsteine waren voller gefrorenem Morast, aber die Straße war ziemlich trocken und gestreut. Sie wich einigen entgegenkommenden Autos aus und fand sogar noch die Kraft, dem Polizisten zuzurufen, als er nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher