Schwarzer Mond: Roman
Geschichte.«
Mr. Mendoza eilte zum Telefon.
Stefan fragte einen der Polizeibeamten, der sich genähert hatte: »Wurden Aufnahmen von der Halswunde des Jungen gemacht?«
Der Polizist nickte. »Ja. Gehört zur Routine.« Er lachte nervös. »Was sage ich da? Von Routine kann hier ja wohl nicht die Rede sein.«
»Es gibt also Fotos, die beweisen können, was geschehen ist«, sagte Vater Wycazik. »Das ist gut, denn ich glaube, dass die Narbe bald kaum noch zu sehen sein wird.« Er wandte sich wieder dem Jungen zu. »Nun, Hector, wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern einmal deinen Hals sehen und diese Narbe abtasten.«
Der Junge nahm bereitwillig seinen Schokoriegel aus dem Mund.
Vater Wycaziks Finger zitterten, als er das rote Narbengewebe berührte und behutsam über die lange Wunde strich. In den beiden Halsschlagadern war ein kräftiger Puls zu spüren, und Stefans Herz klopfte laut vor Freude, als er das Wunder des Lebens unter seinen Händen fühlte. Der Tod war hier besiegt worden, und Stefan war fest davon überzeugt, dass es ihm vergönnt gewesen war, eine Erfüllung der Schriftstelle mitzuerleben, die eine göttliche Verheißung an die Kirche Christi ist: >Der Tod wird nicht mehr sein ...<
Tränen traten ihm in die Augen.
Als Stefan schließlich seine Hände vom Hals des Jungen nahm und aufstand, fragte einer der Polizisten: »Was bedeutet das alles, Vater? Ich habe gehört, wie Sie zu Mrs. und Mr. Mendoza sagten, das sei nicht die ganze Geschichte. Was geht hier eigentlich vor?«
Stefan drehte sich um und betrachtete die inzwischen zwanzigköpfige Schar. In ihren Gesichtern stand die Sehnsucht nach einem Glauben geschrieben, nicht unbedingt nach den Wahrheiten des Katholizismus oder des Christentums, denn nicht alle waren Katholiken oder überhaupt Christen, aber die Sehnsucht an etwas glauben zu können, das größer und besser und reiner war als die Menschheit - ein starkes Bedürfnis nach einer geistlichen Transzendenz.
»Was hat das alles zu bedeuten, Vater?« fragte wieder einer dieser Menschen.
»Etwas geschieht - hier und anderswo«, antwortete Stefan. »Ein großes und wundervolles Etwas. Dieses Kind ist ein Teil davon. Ich kann euch nicht genau sagen, was es bedeutet; ich kann euch auch nicht versichern, dass hier die Hand Gottes am Werke war obwohl ich das persönlich glaube. Seht euch den kleinen Hector auf dem Schoß seiner Mutter an, wie er fröhlich seinen Schokoriegel lutscht, und erinnert euch an Gottes Versprechen: >Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein: denn das erste ist vergangen.< Im tiefsten Innern meines Herzens fühle ich, dass das erste - das Frühere - dabei ist zu vergehen. Und jetzt muss ich gehen. Dringende Angelegenheiten warten auf mich.«
Trotz seiner etwas vagen Erklärung machten sie ihm zu seiner Überraschung Platz und bedrängten ihn nicht mit weiteren Fragen, vielleicht weil das Wunder an Hector Mendoza nicht vage gewesen war und ihnen bereits mehr Antworten gegeben hatte, als sie verkraften konnten. Aber als Stefan vorbeiging, streckten einige die Hände aus und berührten ihn, nicht aus einem religiösen Impuls heraus, sondern aus elementarer Kameradschaft. Und auch Stefan gab seinem tiefen Bedürfnis nach, sie ebenfalls zu berühren, um das Gefühl mit ihnen zu teilen, dass die Menschheit eine große Familie ist, und um die Überzeugung mit ihnen zu teilen, dass sie auf irgendeine große Bestimmung zuströmten.
In Boston las Alexander Christophson -ehemaliger Senator, Botschafter und Direktor des CIA - um zehn Uhr gerade seine Morgenzeitung, als er einen Anruf von seinem Bruder Philip, dem Antiquitätenhändler in Greenwich, erhielt. Sie unterhielten sich fünf Minuten über belanglose Dinge -zwei Brüder, die einfach miteinander in Kontakt bleiben wollen. Schließlich sagte Philip: »Ach, übrigens, ich habe heute morgen Diana getroffen. Erinnerst du dich noch an sie?«
»Aber ja«, antwortete Alex. »Wie geht es ihr?«
»Ach, sie hat so ihre Probleme«, sagte Philip. »Aber es würde dich bestimmt langweilen, Näheres darüber zu hören. Sie lässt dich jedenfalls grüßen.«
Dann wechselte er das Thema und empfahl Alex zwei neue interessante Bücher, so als sei Diana nicht weiter wichtig.
Diana war das Codewort, das bedeutete, dass Ginger Weiss Philip angerufen hatte und Alex sprechen musste. Als Alex sie bei Pablo Jacksons Beerdigung gesehen hatte, hatte ihr silberblondes Haar ihn sofort an die
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