Schwarzer Mond: Roman
benötigte. An diesem Tag vor Weihnachten war es gut zur Hälfte gefüllt. Ohne einen Blick auf die Absender zu werfen, trug er alles ins Auto; er würde seine Post während des Frühstücks lesen.
>The Cottage<, ein seit Jahrzehnten beliebtes Restaurant, lag östlich des Pacific Coast Highway, am Hügel über der Straße.
Um diese Zeit waren die meisten Frühstücksgäste schon wieder gegangen, und für den Andrang zum Mittagessen war es noch zu früh. Dom bekam einen Tisch am Fenster mit der schönsten Aussicht. Er bestellte zwei Eier, Speck, Hüttenkäse, Toast und Grapefruitsaft.
Beim Essen sah er seine Post durch. Abgesehen von Zeitschriften und Rechnungen war ein Brief von Lennart Sane dabei, dem sympathischen schwedischen Agenten, der wegen der Übersetzungsrechte in Skandinavien und Holland verhandelte, sowie ein großer wattierter Umschlag von Random House. Sobald Dom den Namen seines Verlages las, wusste er, was sich in dem Umschlag befand. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich schlagartig durch die freudige Erregung. Er legte seinen angebissenen Toast auf den Teller und riss den Umschlag auf. Ein Freiexemplar seines ersten Romans kam zum Vorschein. Kein Mann wird wohl jemals ermessen können, was eine Frau empfindet, wenn sie ihr neugeborenes Kind zum erstenmal in die Arme schließt, aber ein Schriftsteller, der das erste Exemplar seines ersten Buches in der Hand hält, muss von einem ähnlichen Glücksgefühl durchdrungen sein wie die Mutter, die zum erstenmal das Gesicht ihres Babys betrachtet und durch die Windeln hindurch seine Wärme spürt.
Dom legte das Buch neben seinen Teller und konnte seine Blicke kaum davon lösen. Er hatte sein Frühstück beendet und Kaffee bestellt, als er endlich imstande war, sich von >Twilight in Babylon< loszureißen und die übrige Post zu öffnen. Unter anderem war da ein weißer Briefumschlag ohne Absender. Er enthielt ein weißes Blatt Papier, auf dem zwei mit Schreibmaschine getippte Sätze standen, die ihn aufrüttelten:
Der Schlafwandler täte gut daran, die Ursache für sein Problem in der Vergangenheit zu suchen. Dort liegt das Geheimnis begraben.
Erschrocken las er die Botschaft noch einmal. Er erschauerte so heftig, dass das Blatt Papier in seiner Hand knisterte. Plötzlich spürte er kalten Schweiß in seinem Nacken.
2. Boston, Massachusetts
Als Ginger aus dem Taxi stieg, stand sie vor einem fünfstöckigen Ziegelbau neugotischen Stils. Der heftige Wind peitschte ihr ins Gesicht und ließ die kahlen Bäume an der Newbury Street ächzen, stöhnen und knarren. Für Ginger hörte sich das an wie das Klappern eines Skeletts. Mit eingezogenem Kopf eilte sie an einem niedrigen Eisenzaun entlang und betrat Newbury 127, das ehemalige Hotel Agassiz, eines der schönsten Baudenkmäler der Stadt, das jetzt in Eigentumswohnungen umgewandelt worden war. Ginger wollte hier Pablo Jackson besuchen, von dem sie nur das wusste, was sie am Vortag im >Boston Globe< gelesen hatte.
Sie hatte gewartet, bis George sich auf den Weg ins Krankenhaus gemacht hatte und auch Rita in die Stadt gefahren war, um letzte Weihnachtseinkäufe zu machen, bevor sie selbst Baywatch verließ - aus Angst, dass die beiden versuchen würden, sie zurückzuhalten. Und tatsächlich hatte sogar die Haushälterin Lavinia sie angefleht, doch nicht allein aus dem Haus zu gehen. Ginger hatte auf einen Zettel geschrieben, wohin sie fahren wollte, und sie hoffte, dass ihre Freunde sich keine allzu großen Sorgen machen würden.
Als Pablo Jackson seine Wohnungstür öffnete, war Ginger überrascht. Dass er ein Schwarzer und über achtzig Jahre alt war - das hatte sie aus dem Artikel im >Globe< erfahren. Aber sie war nicht auf einen so kräftigen und vitalen Mann eingestellt gewesen. Er war höchstens eins fünfundsiebzig groß und schmächtig, aber das Alter hatte weder seinen Rücken noch seine Schultern gebeugt und auch seine Beine nicht gekrümmt. Er stand in weißem Hemd und schwarzer Hose mit scharfer Bügelfalte militärisch aufrecht da, und sein Lächeln sowie die Geste, mit der er sie in die Wohnung bat, hatten etwas Lebhaftes und Jugendliches an sich. Sein krauses Haar war immer noch dicht, aber von schimmerndem Weiß, was ihm eine Aura des Geheimnisvollen verlieh. Er führte Ginger schwungvoll, mit dem Gang eines jungen Mannes, in sein Wohnzimmer.
Auch dieses Wohnzimmer war für sie eine Überraschung, keineswegs das, was sie in den würdigen alten Räumen des ehemaligen Hotels Agassiz von
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