Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
zum Beispiel, indem man einen Polizisten besticht. Zweitens wimmelt es in Polizeistationen von Polizisten, von denen manche so misstrauisch sind, dass es schon an Verfolgungswahn grenzt. Sogar vielgepriesene Uniformständer wie PC Phillip Purdy, deren Funktion hauptsächlich darin besteht, im Weg zu sein, gehören dazu. An jenem Abend bot Purdy ungeahnte Ressourcen auf, sich für alle Zeiten mit goldenen Lettern in die Liste der Helden der Met einzureihen. Wie man später rekonstruierte, war Purdy, nachdem er den Herrn im Tutuerfolgreich in sein Nachtquartier eingewiesen hatte, auf dem Weg zur Kantine, um sich um den »Papierkram« zu kümmern, als ihm eine weibliche IC 1-Person auffiel, die eine Seitentreppe zu den Vernehmungsräumen der Kriminalabteilung hinaufstieg. Auf den Aufnahmen der Überwachungskamera ist deutlich zu sehen, wie er ihr etwas nachruft und, als sie nicht reagiert, hinter ihr die Treppe hinaufzusteigen beginnt.
In genau diesem Moment, zumindest nach der Zeitangabe der Kamera, zeigt meine Wenigkeit den Sicherheitsleuten seinen Dienstausweis vor und wird ins Gebäude gelassen. Mit einem Double Macchiato von Costa Coffee in der einen und einer Zimtschnecke in der anderen Hand mache ich mich sodann über die Haupttreppe auf den Weg zu ebendiesen Räumlichkeiten – zu diesem Zeitpunkt bin ich noch ein Stockwerk entfernt.
Früher war ein Vernehmungsraum einfach ein normales Büro mit einem Tisch, ein paar Stühlen, guter Schalldämmung und einem Schrank, wo man die Telefonbücher verstauen konnte, wenn man fertig war. Heutzutage hat ein Vernehmungsraum möglichst zwei Kameras mit verschiedenen Winkeln, ein Aufnahmegerät, einen halbdurchlässigen Beobachtungsspiegel und einen separaten Überwachungsraum, von dem aus ein diensteifriger höherer Beamter mehrere Vernehmungen gleichzeitig beobachten oder auch einfach ein Nickerchen halten kann. Da in West End Central all das auf eine Fläche gequetscht worden war, die man in den dreißiger Jahren als bescheidenes Großraumbüro angelegt hatte, war der Korridor vor den Räumen ein wenig eng. Die einzige Überwachungskamera im Korridor gab etwa zu der Zeit den Geist auf, als ichden Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, und keines der Aufnahmegeräte in den Räumen war angeschaltet. Für mich war das vorteilhaft, weil so die dreißig Sekunden sprachloser Unentschlossenheit, als ich um die Ecke kam und mich der Bleichen Lady gegenübersah, der Nachwelt erspart blieben.
Abgesehen von ihrem Haar, das sie jetzt in einem ausgefransten Pagenschnitt trug, sah sie ganz genauso aus wie in den Zeugenaussagen: weißes Gesicht, riesige Augen und ein Mund, bei dem es einen gruselte. Sie trug eine graue Jogginghose und eine lachsrosa Kapuzenjacke und bemerkte mich zunächst nicht, weil sie damit beschäftigt war, PC Purdy von ihrem Bein abzuschütteln. Er lag der Länge nach auf dem Boden, sein linker Arm – an zwei Stellen gebrochen, wie ich später hörte – schleifte nutzlos neben ihm, und seine rechte Hand war um den erstaunlich schlanken Fußknöchel der Bleichen Lady geschlossen. Eines seiner Augen begann zuzuschwellen, und aus seiner Nase lief Blut.
Ich weiß nicht, woran es lag – am Schock, daran, dass ich den Mund voll Zimtschnecke hatte oder dass ich schon den ganzen Tag nur schräge Sachen erlebt hatte und davon ein bisschen benommen war – aber ich konnte mich trotz bester Vorsätze nicht von der Stelle rühren.
Purdy indessen bemerkte mich. »Hilfe«, krächzte er.
Die Bleiche Lady sah zu mir herüber und legte den Kopf schief.
»Hilfe«, keuchte Purdy noch einmal.
Ich wollte ihm sagen, er solle sie loslassen und abhauen, aber das ging in einem Regen von Zimtschneckenkrümeln unter.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, hob die Bleiche Lady elegant eine Hand und ließ sie auf Purdys Handgelenk niedersausen. Das Knacken von Knochen war zu hören, und Purdy wimmerte und ließ los. Sie lächelte, wobei viel zu viele Zähne sichtbar wurden – ich kannte diese Art Lächeln. Ich wusste, was nun kommen würde. Sie spannte sich an, ich auch, dann sprang sie wie ein schauerlicher Blitz auf mich zu, den Kopf vorgereckt, mit weit geöffnetem Mund und gebleckten Reißzähnen. Ich schüttete ihr meinen Kaffee ins Gesicht. Ich hatte ihn mir gerade erst geholt. Er war glühend heiß.
Sie kreischte laut auf, und ich warf mich aus dem Weg. Aber weil der Korridor so eng war, krachte sie mit der Schulter in mich hinein, und ich wurde von dem
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