Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
Feuerwaffen noch recht unberechenbare Prügel mit zweifelhaftem Nutzen. Aber es gab zu allen Zeiten tollkühne Enthusiasten, und nicht wenige dieser tapferen Pioniere mussten feststellen, dass ihre Waffe am hinteren statt am vorderen Ende explodierte und sie sich daran die Finger verbrannten oder, noch schlimmer, dass der Schuss nach hinten losging. Die Redewendungen, die daraus entstanden, passten nur allzu gut auf das, was mir widerfuhr, als ich Simone in ihre Vergangenheit zurückführte und sie mir das Hirn aus dem Kopf saugte.
Eine Bombenexplosion erlebt man nicht. Man erinnertsich nur später daran. Es ist ein bisschen wie eine schlechte Aufnahme oder eine Nadel, die über ein paar Rillen einer Platte springt. Vor dem fraglichen Augenblick herrschen Musik und Gelächter und prickelnder Flirt und danach – nicht Schmerz, der kommt später, nur betäubtes Nichtbegreifen. Ein Durcheinander aus Staub, zersplittertem Holz, ein Spritzer Weiß und Rot, der zum Anzughemd eines Mannes wird, umgestürzte Tische, zwischen denen abgetrennte Beine und kopflose Körper liegen, eine Posaune ohne Zug aufrecht auf einem Tisch, als hätte ein Musiker sie dort vergessen, davor zwei Männer in Khakiuniformen, die blind darauf starren – tot, allein durch die Druckwelle.
Und dann Lärm, Schreie, der Geschmack von Blut in Simones Mund.
Mein Blut, erkannte ich – ich hatte mir auf die Lippe gebissen.
Es war Simone, die mich von sich stieß.
»Wie alt bin ich?«, fragte sie.
»Ich schätze mal, knapp neunzig«, sagte ich, weil ich manchmal einfach nicht den Mund halten kann.
»Deine Mutter hat recht. Ich bin eine Hexe.«
Ich stellte fest, dass ich schwankte und meine Hand zitterte. Ich hob sie und betrachtete sie.
»Sie hat recht«, sagte Simone. »Ich bin kein Mensch. Ich bin eine Kreatur, ein Monster.«
Ich wollte ihr sagen, dass sie ganz ohne Zweifel ein menschliches Wesen und überhaupt einige meiner besten Freunde funktionell unsterblich waren. Aber es kamen nur ein paar unartikulierte
Wah
-Laute heraus, wie bei Charlie Browns Lehrerin.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich muss gehen und mit meinen Schwestern reden.« Sie lachte bitter auf. »Die nicht meine Schwestern sind, nicht wahr? Ich bin Lucy, wir alle sind Lucy Westenra.«
Sie drehte sich um und rannte hinaus. Ich hörte ihre Absätze auf der Wendeltreppe klappern. Eigentlich wollte ich ihr folgen, aber stattdessen fiel ich sacht vornüber und ging zu Boden.
»Das war wirklich nicht Ihre klügste Aktion«, sagte Nightingale, während Dr. Walid mir in die Augen leuchtete, um sicherzugehen, dass meine Gehirnfunktionen noch intakt waren. Ich weiß nicht genau, wie lange ich auf dem Boden der Remise herumgelegen hatte, aber sobald ich wieder genug Kontrolle über meine Muskeln hatte, um ein Telefon zu benutzen, hatte ich Dr. Walid angerufen. Er nannte es einen atonischen Anfall, weil es ihm wichtig war, dem Ganzen einen coolen Namen zu geben, auch wenn er keine Ahnung hatte, was dazu geführt hatte. Ich hatte gehofft, mir dafür eine plausible Erklärung ausdenken zu können, bevor Nightingale auftauchte, aber er trat gleich hinter Dr. Walid durch die Tür.
»Ich wollte sichergehen, dass sie zum Café-de-Paris-Fall gehört und nicht zum Strip-Club des Dr. Moreau«, sagte ich. »Ich meine, sie ist ja keine Chimäre wie die Bleiche Lady. Tatsächlich glaube ich, dass sie ein Unfall ist.« Und ich erzählte von Miss Patternost und ihrer Idee mit den musikalischen Bildern.
»Sie glauben, diese ›Bilder‹ könnten wie
Formae
gewirkt haben?«, fragte Nightingale.
»Warum nicht? Als ich klein war, hab ich mir vor demSchlafengehen auch immer Dinge vorgestellt, oder beim Musikhören. Viele machen das. Und so klein die Chance ist, unter Milliarden von Leuten kann es durchaus mal vorkommen, dass man das lange genug wiederholt, bis dabei was entsteht – nämlich Magie. Wie hätte Newton sonst überhaupt auf seine Prinzipien kommen können? Die drei Mädchen waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und taten das Falsche und …«
»Und?«, fragte Dr. Walid.
»Ich glaube, sie haben die Bombe im Café de Paris überlebt, weil sie durch die
Formae
in ihren Gedanken Magie kanalisierten – oder Lebensenergie oder was auch immer. Wir wissen ja, dass im Augenblick des Todes Magie freigesetzt werden kann – daher auch rituelle Opferungen.«
»Daher: Vampire«, sagte Nightingale.
»Keine Vampire«, widersprach ich.
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