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Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)

Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)

Titel: Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
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führte zu einem umlaufenden Balkon hinauf, der mich unbehaglich an das Royal Opera House erinnerte.
    Simone packte meinen Arm. »Man spürt richtig die geschichtsträchtige Atmosphäre. Der Prince of Wales kam oft hierher.«
    »Dann hoffe ich mal, das Essen ist makrobiotisch.«
    »Was in aller Welt ist makrobiotisch?«
    »Ach, Sie wissen schon, Bohnen, Reis«, sagte ich und hielt inne, als mir klar wurde, dass ich auch nicht wusste, was makrobiotisch war. »Gesundes Essen eben«, schloss ich.
    »Das klingt überhaupt nicht nach ihm.« Sie drehte sich um sich selbst. »Kommen Sie, wir müssen unbedingt tanzen!«
    »Es gibt gar keine Musik«, sagte ich eilig. »Und außerdem muss ich die Bühne überprüfen.«
    Sie tat, als ob sie schmollte, aber ihre roten Lippen zuckten. »Wenn Gesetzeshüterpflicht getan sein muss«, sang sie, »ist das Polizistendasein kein Genuss.«
    Auf der Bühne war neben dem Stutzflügel höchstens noch Platz für ein Gesangstrio, falls die Sänger sehr dünn waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die dralle Peggy dort ihre Nummer abzog, egal wie gediegen, ohne über den Rand zu fallen. Ich drückte diesen Zweifel laut aus.
    »Ähm«, sagte Simone. »Ich glaube, Sie werden feststellen, dass die Bühne nach vorn erweitert werden kann. Soviel ich weiß, heißt das beim Theater ›ausziehbare Bühne‹.«
    Ich konnte sie spüren   – Schichten von
Vestigia
, die sich in die Wände des Café de Paris gebrannt hatten, aufbrandendes Gelächter, Teeduft, Musikfetzen, plötzlich der scharfe Geschmack von Blut auf meiner Zunge. Es war wie in einer alten Kirche, unzählige Ereignisse und Leben, viel zu sehr ineinander verwoben, um einen einzelnen Faden zu verfolgen. Nichts aus der jüngsten Vergangenheit. Ein
Vestigium
kerbt sich nicht ein wie eine Rille in eine Schallplatte, es ist keine Aufnahme. Es ist eher die Erinnerungan einen Traum, und je stärker man danach zu greifen versucht, desto schneller zerschmilzt es.
    Noch ein Erinnerungsfetzen   – Backsteinstaub und eine klirrende Stille. Ich erinnerte mich: Das Café de Paris war im Krieg von einer Bombe getroffen worden, wobei die meisten der Musiker, einschließlich des legendären Bandleaders Ken Johnson, getötet worden waren. Das könnte die Stille erklären. Polidori, dieser Ausbund an Heiterkeit, hatte einmal ein Massengrab aus der Zeit der großen Pest besichtigt und als
Abgrund der Stille
beschrieben.
    »Sie haben mir einen Tanz versprochen«, sagte Simone.
    Hatte ich zwar nicht, aber ich nahm sie in die Arme, und sie schmiegte sich eng an mich. Sie fing an zu summen, und wir wiegten uns in einem engen Kreis. Die Melodie kannte ich nicht. Ihr Griff um meine Taille wurde fester, und ich wurde hart. »Das kannst du besser«, flüsterte sie.
    Ich ließ die Hüften stärker kreisen, und einen Augenblick lang war ich wieder in der Brixton Academy mit Lisa Pascal aus dem Stockwell Park Estate, die fest entschlossen schien, mein erstes Mal zu werden, aber dann kotzte sie sich auf dem Astoria Park Walk die Seele aus dem Leib, und am Ende verbrachte ich die Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer Eltern.
    Und dann hörte ich es, Johnny Greens Eingangsakkorde, aber mit einem swingenden Rhythmus, und darüber, wie von weit her, eine Singstimme:
My heart is sad and lonely   / For you I sigh, for you, dear, only.
Simone war klein genug, um die Wange an meine Brust zu legen. Erst als sie mitsummte, merkte ich, dass ich die Melodie aufgenommen und vor mich hin gesummt hatte. Ihr Parfüm vermischte sich mit den
Vestigia
von Staub und Stille, undder Text erreichte mich so klar, dass ich leise mitsingen konnte.
Why haven’t you seen it?   / I’m all for you, body and soul.
    Simone durchlief ein Schauder. Sie legte mir den Arm um den Hals, zog mich zu sich hinab und flüsterte mir ins Ohr: »Bring mich nach Hause.«
     
    Spätestens in der Berwick Street rannten wir fast, und Simone hielt den Hausschlüssel schon bereit, als wir die Eingangstür erreichten. Direkt dahinter begann eine steile Treppe mit robustem Teppich. Die Vierzig-Watt-Glühbirnen im Treppenhaus waren an diese grandiosen Zeitschalter angeschlossen, die nie ausreichen, wenn man nach ganz oben will. Die Treppe vom zweiten in den dritten Stock wand sich im Zickzack um eine bizarre Sanierungsmaßnahme aus den Fünfzigern herum, als hier oben die Wohnung zu »Modelle: oberste Klingel« gewesen war. Der Aufstieg war ziemlich steil, und ich war nahe daran schlappzumachen, aber ihre

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