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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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ließ den Blick über die Köpfe schweifen und lokalisierte die Person rechts von ihm als Wortführer. Der Mann trug auf seinem weißen Kittel eine Schürze aus halb durchsichtigem Kunststoff. Seinen Beruf konnte er nicht leugnen. Auf der Arbeitstracht zeugten zahlreiche Blutspuren von seiner morgendlichen Tätigkeit. Im Gegensatz zum landläufigen Bild des dicklichen, pausbäckigen Metzgers zeichnete er sich durch eine hagere Gestalt aus. Seine Wangenknochen traten fast so deutlich hervor wie der mächtige Adamsapfel am dürren und überlangen Hals. Überhaupt nicht zu ihm passen wollten jedoch seine Finger. Dick und unförmig wie kleine Würstchen klammerten sie sich an den Karten fest.
    »Gut – dann seid ihr schon im Bilde, was passiert ist.« Treidler schaute erwartungsvoll in die Runde und rechnete mit einem Wortschwall, der gleich über ihn hereinbrechen würde. Doch nichts geschah. Seelenruhig sortierten die Männer ihre Karten. Er konnte zuerst nicht glauben, was sich vor seinen Augen abspielte und benötigte einige Zeit, um zu realisieren, dass die drei seine Fragen vollkommen ignorierten.
    Bei den Befragungen von unwilligen Zeugen bemühte sich Treidler in der Regel, ruhig zu bleiben. Es brauchte lange, um ihn so weit zu bringen, dass der Ärger aus ihm hervorbrach. Aber diese Männer schafften es mit gerade mal zwei Halbsätzen. Er trat näher an den Tisch heran und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Die Biergläser in den Kupferbehältern wackelten, und das Wasser schwappte heraus. »Seid ihr noch ganz bei Trost?«, schrie er in die Runde. »Da draußen liegt ein Toter, und ihr spielt hier seelenruhig Karten?«
    »Binokel«, verbesserte der Mann an der linken Tischseite. Er schaute dabei nicht Treidler an, sondern schielte zu Melchior.
    »Hundertachtz’g«, rief ihm der Metzger zu.
    »Zweihundert«, antwortete er und begutachtete wieder sein Blatt auf der Hand.
    »Jetzt reicht’s. Entweder ihr legt sofort diese verdammten Karten auf den Tisch …«
    »Od’r?«, unterbrach der Metzger barsch. Immer noch ließ er nicht von den Karten ab.
    »Oder ich lass euch alle drei auf die Polizeidirektion nach Rottweil bringen.«
    »Geht nit!« Der Einwand kam erneut von dem Mann auf Treidlers linker Seite. Seinem ölverschmierten Arbeitskittel zufolge handelte es sich um einen Handwerker, vielleicht einen Flaschner. Die völlig verdreckten Finger hielten die Karten fest, während seine Augen den Metzger fixierten.
    »Was?« Treidler schrie fast.
    »Auf mi wartet an Rohrbruch.«
    »Zweihundertzwanz’g«, ließ der Metzger verlauten.
    »Ich muass dem Has no s’ Fell abzieha«, meldete sich der dritte Mann, der Jäger, zu Wort. Er deutete mit seinem Kopf hinter sich auf einen Korb, aus dem ein Fellbündel ragte. Auch auf seinem Hemd befanden sich einige Blutspritzer.
    Treidler glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Er hatte bestimmt schon viel erlebt, so etwas allerdings war ihm bisher nicht untergekommen.
    »Zweihundertvierz’g«, konterte der Handwerker.
    »I bin raus!«, rief der Metzger.
    »Erfolgreiche Befragung«, raunte Melchior Treidler zu und lächelte schief. »Soll ich nicht doch wieder?«
    »Häsch du me?«, wandte sich indessen der Handwerker an den Jäger und erntete ein Kopfschütteln.
    Treidler musterte erneut die drei Männer, die immer noch so taten, als ob sie sich allein im Wirtshaus befanden. Der Handwerker nahm den Stapel Karten vom Tisch auf und sortierte sie zwischen die anderen auf seiner Hand. Treidler kommentierte die Szene mit einem verächtlichen Knurren. »Das ist sinnlos. Diese verbohrten Holzköpfe reden nicht. Schon gar nicht mit jemandem, der so offensichtlich wie Sie nicht von hier stammt. Wir lassen uns vom Wirt ihre Namen geben und befragen sie später. So kommen die mir nicht davon.« Er deutete zum Fenster. »Vielleicht ist die alte Dame dort drüben gesprächiger.«
    »Das übernehme ich jetzt besser.«
    »Nur zu …«, entgegnete Treidler und musterte die Frau. Und plötzlich wusste er, was ihn an ihr störte. Mitten im Winter trug sie ein dünnes buntes Kleid, und den Hut auf ihrem Kopf identifizierte er als eine Art Strohhut, den man üblicherweise nur im Sommer trug. Sie hatte sich geschminkt wie eine junge Frau, die auf ihren Geliebten wartete. In der Tat – wäre sie jünger und nicht allein, würde ihn die Szene an ein sommerliches Rendezvous erinnern, wie es sich hier im Dorf vor fünfzig Jahren zugetragen haben könnte.
    Melchior stellte sich hinter

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