Schwarzer Neckar
ist. Das ist alles, was ich weiß. Nicht mehr und nicht weniger.« Er ließ seine Worte kurz wirken. »Eines musst du mir glauben, Ernie. Ich habe sie geliebt, wirklich geliebt – Lisa war meine Traumfrau. Und ich würde alles dafür geben, wenn ich diesen Abend ungeschehen machen könnte.«
***
Mit acht Jahren klingt deine Stimme wie die eines Engels. Sie ist so rein und klar, dass sich deine Lehrerin in der zweiten Grundschulklasse dafür einsetzt, dich bei den Sängerknaben der Benthaler Klosterschule unterzubringen. Nach wenigen Stunden in der Vorschola darfst du im Konzertchor der Klosterspatzen mitsingen. Ein Privileg, das anderen erst nach einigen Jahren zuteilwird. Wenn überhaupt. Denn gewöhnlich pauken die Kinder zuerst Noten. Und falls dies nicht schnell genug geschieht, schickt sie der Chorleiter einfach nach Hause. Dich hingegen nicht. Noch Jahre später kannst du weder Noten lesen noch die Tonleiter in die fünf Notenlinien deines Musikheftes eintragen. Gleichwohl bekräftigt der Chorleiter immer wieder, dass es nur einmal im Jahrzehnt solch ein Talent, solch eine Engelsstimme wie die deine gibt.
Kleiner Engel, so ruft dich auch deine Mutter. Sie ist sehr stolz auf dich und verfolgt jeden Auftritt der Benthaler Klosterspatzen. Und das sind nicht wenige. Bald schon hörst du auf, die Städte und Konzerthallen zu zählen. Und die vielen Stunden, die ihr deshalb durch die Gegend kutschiert. Ohne den Vater – denn der bleibt stets zu Hause. Auch ohne ihn gehört diese Zeit zu den schönsten in deinem noch kurzen Leben. Und du kannst sie mit deiner Mutter teilen – ganz allein.
In jenem Jahr überträgt ein Radiosender das Weihnachtssingen der Klosterspatzen. Und über Nacht kennen dich plötzlich so viele Menschen, dass du dir ihre bloße Anzahl nicht vorstellen kannst. Zu jedem neuen Auftritt kommen immer mehr Zuschauer und bald sind die Konzerte für Monate ausverkauft. Sie klatschen, sobald der Chor auf die Bühne tritt, und oft dauert der Applaus noch Minuten, nachdem du dein Solo beendet hast. Nach dem Auftritt machen sie Fotos mit dir, und manchmal kommt es dir vor, dass die Leute nur wegen dir, dem kleinen Jungen mit der Engelsstimme, zugeschaut haben. Seit diesen Tagen bist du auch davon überzeugt, dass etwas Besonderes, etwas Großes aus dir werden wird.
Das alles ändert sich, als der Bauch deiner Mutter immer dicker wird. Jede Woche ein Stückchen mehr. Irgendwann erklärt sie dir, dass ein kleiner Mensch darin heranwächst und du bald ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen bekommen wirst. Deine Mutter freut sich darauf. Auch du freust dich – weil sie sich freut. Doch nicht der Vater. Er sagt, dass für einen weiteren Balg kein Geld da ist. Und nur weil die Mutter nicht aufgepasst hat, muss er jetzt mehr arbeiten. Auch das mit den Klosterspatzen müsste bald aufhören, da er für solch einen Firlefanz kein Geld übrig habe.
Zu jener Zeit verstehst du nicht, was das Wort Alkohol bedeutet, geschweige denn, was zu viel davon anrichten kann. Vermutlich kannst du das Wort noch nicht einmal fehlerfrei schreiben. Erst viel später erkennst du, dass du damals die Auswirkungen des Alkohols Tag für Tag gespürt hast. Es hat mit lauten Wortwechseln begonnen, dann hat der Vater geschrien und die Mutter geweint. Meist am Abend, wenn sie gedacht haben, dass du schläfst. Doch du hast nicht geschlafen, sondern mit der Taschenlampe unter der Decke die handtellergroßen Kinderlexika angeschaut, die deine Oma bei ihren Besuchen immer mitgebracht hat. Bunt sind sie, und es gibt darin viele lustige Zeichnungen. Inzwischen besitzt du alle Bücher bis zum Buchstaben »V«. Es ist eine ansehnliche Reihe auf deinem Bücherregal, die noch für zahlreiche Streitereien reichen wird.
Doch irgendwann schreien sich deine Eltern nicht nur abends, sondern auch tagsüber an. Beim Abendessen oder am Wochenende. Es ist mehr ein Dauerzustand als die Ausnahme. Immer lauter, immer unerträglicher wird es. Eines Tages beginnt dann deine Engelsstimme wie von selbst zu singen. So rein, so klar und so laut, dass das Geschrei schlagartig aufhört. Wenigstens die erste Zeit.
SECHS
Dienstag, 20. Dezember
Das Mobiltelefon in Melchiors Hand machte sich mit einem leisen Rufton bemerkbar. Mit jedem weiteren Klingeln steigerte sich die Lautstärke. Sie reagierte nicht. Sie stand vollkommen nackt am Fenster und schaute den Schneeflocken zu, die im ersten Licht des Tages zu Boden rieselten. Erst nachdem das Telefon gewiss ein
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