Schwarzer Neckar
Gesprächspartner bereitwillig Auskunft: »Unter dem Wort Gliom versteht man alle benignen – das sind die gutartigen – und alle malignen – die bösartigen – Neubildungen, die im zentralen Nervensystem entstehen. Dazu gehört das Gehirn beziehungsweise die Rückenmarksubstanz und die umgebenden Hirnhäute.«
Treidler hatte zwar Mühe, die Fachbegriffe so schnell aufzunehmen, wie Karchenberg sie von sich gab, doch allmählich kristallisierte sich heraus, dass der Alte schwer krank war.
»Im Vergleich zu anderen Krebserkrankungen«, fuhr Karchenberg unbeirrt fort, »wie zum Beispiel Lungen-, Brust-, Darm- oder Vorsteherdrüsenkrebs, sind primäre Gliome des Gehirns und Rückenmarks deutlich seltener. Sie machen vielleicht zwei Prozent aller Krebserkrankungen aus. Was sie allerdings nicht weniger gefährlich macht, wenn ich das noch hinzufügen darf.«
»Gut«, warf Treidler ein. »Krebs – habe ich verstanden.«
»Das ist nicht einfach nur Krebs, Treidler, sondern ein bösartiger Hirntumor – absolut inoperabel. Der Mann hatte höchstens noch zwei oder drei Monate zu leben.« Karchenberg hielt kurz inne. »Haben Sie das verstanden? Lediglich ein paar Monate.«
Auch das noch: ein alter Mann, der innerhalb kurzer Zeit von selbst gestorben wäre. Vor seinem geistigen Auge tauchte der tote Körper im Florheimer Wartehäuschen auf. Schon beim ersten Anblick der Leiche war ihm der Mord seltsam vorgekommen. »Seit wann wusste er das?«
Zum ersten Mal herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen. »Woher soll ich das wissen?«, brummte Karchenberg dann. »Ich bin Rechtsmediziner und kein Hellseher. Das ist Ihr Job.«
Natürlich hatte Karchenberg recht. Das gehörte zu seinen Aufgaben. Jedoch bei einem war sich Treidler sicher: Der Tote hatte es gewusst.
Mit einem Dank beendete er das Gespräch und legte auf. Gehirntumor – inoperabel. Bei diesem Fall wollte nichts zusammenpassen. Nicht das kleinste Detail. Je mehr Spuren sie fanden, desto verzwickter erschien das Verbrechen. Nachdenklich strich er sich mit dem Handrücken über das unrasierte Kinn und stierte nach draußen in die Schneeflocken, als ob dort die Lösung läge. Immerhin wussten sie jetzt, warum das Opfer die Medikamente bei sich getragen hatte. Erschöpft schloss er die Augen und legte den Kopf zurück.
»Ziemlich ermüdend, so ein Bericht der Rechtsmedizin. Sind Sie damit durch?«, sagte da plötzlich Melchior.
Treidler fuhr erschrocken auf. Mit verschränkten Armen stand sie vor seinem Schreibtisch und lächelte vielsagend.
»Ja, Sie können ihn haben.« Er nahm die Papiere vom Tisch und reichte ihr den Stapel.
»Nein, danke«, erwiderte sie. »Hab’s eben gelesen.« Ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, als sie fortfuhr: »Ich hab den Bericht zweimal ausgedruckt. Die Schober aus dem Sekretariat legt die Kopie schon bei den Akten ab.«
Treidler nickte müde und rieb sich die Augenlider. Die Ermittlungen beanspruchten inzwischen seine gesamte Zeit. Vor zwei Tagen hatte er nicht damit gerechnet, dass ihn dieser Fall so sehr einnehmen würde. Es gab Wichtigeres zu tun, als den Tod dieses alten Mannes aufzuklären. Er schielte auf die unterste Schublade seines Schreibtisches. Dort warteten immer noch die Vernehmungsprotokolle der Beamten, die als Erste am Tatort eingetroffen waren. Doch mit Melchior gegenüber war es nicht mehr so einfach wie in den Monaten zuvor, an ›seinem‹ Fall weiterzumachen. Er verfluchte Petersens Entscheidung, sie im selben Büro unterzubringen.
»Treidler …« Melchiors Stimme hatte eine nervöse Färbung angenommen. Fast so, als sei sie unsicher über das, was sie sagen wollte.
»Ja?«
»Danke.«
»Für was?« Treidler blickte auf.
»Für gestern. Möglicherweise haben Sie mir das Leben gerettet.«
Er hob die Achseln. »Möglicherweise.«
»Trotzdem. Danke.«
»War doch selbstverständlich.« Treidler erschrak selbst ob der Direktheit, mit der die Worte über seine Lippen kamen. Er konnte sich nur schwer von ihrem Blick losreißen. Sie war hübsch, verflucht hübsch sogar, und erst jetzt fiel ihm der Glanz ihrer dunklen Augen auf. Am meisten überraschte ihn allerdings ihr Gesichtsausdruck: Sie strahlte ihn mit einer Wärme an, die er kaum zu beschreiben vermochte.
»Was ist, Treidler?«
Er antworte nicht. Das, was er in diesem Moment für seine Kollegin empfand, gehörte nicht hierher.
»Wie machen wir weiter?«, fragte er schließlich. Erneut wurde ihm die Sackgasse bewusst, in der sich
Weitere Kostenlose Bücher