Schwarzer Neckar
zufrieden in die Runde. »Ich hab vorhin ein wenig im Internet recherchiert und etwas gefunden, das euch vermutlich viel mehr interess–«
»Und das wäre?«
»Wenn du mich nicht immer unterbrechen würdest …« Amstetter bedachte Treidler mit einem strengen Blick. »Also gut. Die großen freien Flächen neben dem Kirchturm benutzten Gegner des Faschismus für Sprüche wie ›Hitler verrecke‹, ›Nazi‹ oder eben ›Mörder‹. Die Reichsbank lehnte den Umtausch solcher Münzen ab, da laut Gesetz keine Pflicht zur Einlösung für veränderte Zahlungsmittel bestand. Zwar hat die Gestapo den Umtausch irgendwann erzwungen, wohl um zu verhindern, dass regimefeindliche Propaganda immer weitere Verbreitung fand. Trotz allem, viele der Münzen blieben über Jahre im Umlauf.« Er stieß einen kurzen Laut der Belustigung aus. »Das hat damals sicherlich nicht allen gefallen.«
»Ja und?«, fragte Treidler und machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. »Das bringt uns nicht weiter, Ernie. Oder hast du noch was anderes?«
»Mensch, Treidler, lassen Sie den Mann weiterreden«, sagte Melchior mit einem vorwurfsvollen Blick.
Amstetter dankte ihr mit einem Kopfnicken. »Während des Dritten Reiches verwendeten die Widerständler beim Einkaufen oder beim Bezahlen von Rechnungen oft solche Münzen, wenn sie bewusst jemanden als Nazi oder Mörder denunzieren wollten. Man konnte sie dafür nicht belangen. Es handelte sich schließlich um ein offizielles Zahlungsmittel. Damals erhielten solche Geldstücke auch einen anderen Namen.«
»Welchen denn?«, fragte Melchior.
Amstetter kostete seinen Wissensvorsprung einen kurzen Augenblick aus und räusperte sich, als wolle er zum Höhepunkt einer Rede ansetzten. »›Silberling‹. Sie wissen schon, wie der Judaslohn aus der Bibel.«
»… und nach wie vor das Sinnbild für einen Verräter«, ergänzte Melchior.
NEUN
»Was treibst du so nach der Schule? Fußballspielen?«, fragte Treidler so unverfänglich wie möglich.
Sebastian Flaig rutschte auf dem weiß lackierten Holzstuhl hin und her. Die Ärmel seiner dunkelblauen Winterjacke über der Stuhllehne schoben sich dabei jedes Mal ein Stück weiter Richtung Boden. Ständig pendelte der Blick des Jungen zwischen der Mutter auf der linken Seite und dem Vater rechts von ihm. Zwischendurch schob er immer wieder seine Brille die Nase hoch. Anschließend schaute er abermals nach links, um gleich darauf seinen Kopf wieder nach rechts zu richten. In dem pausbackigen Gesicht spiegelte sich die Unruhe seines ängstlichen Gemüts. Treidler schätzte sein Alter auf dreizehn Jahre oder etwas jünger. Er selbst hatte neben Melchior auf der anderen Seite des kleinen Tisches im Besprechungszimmer Platz genommen.
Martin Flaig, der Vater des Jungen, saß ihm direkt gegenüber. Außer einem unverständlichen Gruß hatte der Mann noch nichts von sich gegeben. Seither presste er die Lippen aufeinander, als ob sie zusammengewachsen wären. Überhaupt zeigte sich in seinem faltigen Gesicht keinerlei Regung. Lediglich die eisblauen Augen huschten hin und her. Offensichtlich verfolgte er jede Geste der beiden Kommissare. Über seinem grün-weiß karierten Flanellhemd, das er bis zum Kragen zugeknöpft hatte, trug er eine beige, abgewetzte Cordjacke mit dunkelbraunen Lederflicken an den Ellenbogen.
Am anderen Ende des Tisches saß Elvira Flaig. Sie schien das völlige Gegenteil ihres Mannes. Selbst nach einem nur flüchtigen Blick auf die beiden würde jeder Außenstehende der Aussage beipflichten, dass Unterschiede sich umso mehr anziehen, je größer sie waren. In der kurzen Zeit, die sie sich im Raum befand, hatte Elvira Flaig garantiert mehr gesprochen als ihr Mann an einem ganzen Tag. Die beiden Kommissare mussten sie überhaupt nicht zum Reden auffordern. Es reichte eine Frage an ihren Sohn oder eine kurze Bemerkung, und schon begann sie zu reden. Es funktionierte fast wie auf Knopfdruck, nur gab es keine Taste zum Vorspulen. Auch mit ihrem Äußeren versuchte Elvira Flaig sich offenbar von ihrem Mann abzuheben. Sie trug ein für die Jahreszeit zu dünnes weißes Kleid mit roten Punkten, und ihr Gesicht war stark geschminkt. Sie sah aus, als ob sie in einer lauen Sommernacht ausgehen wollte.
Treidler erwartete nichts Neues durch die Vernehmung des Jungen. Schließlich hätte jedes der Schulkinder den Toten an der Bushaltestelle entdecken können. Sebastian Flaig hatte nur das Pech gehabt, dass er an jenem Morgen den Tatort als Erster
Weitere Kostenlose Bücher