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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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und nickte. Dennoch ließ Melchior nicht von Treidler ab und folgte ihm.
    »Warten Sie wenigstens da vorne.«
    Sie blieb im Vorraum stehen und blickte widerwillig um sich. »Sie hören mir jetzt zu!«, begann sie in angriffslustigem Tonfall. »Sicher, das M f S bestand zumeist aus einem Haufen Spione, die sich gegen die eigene Bevölkerung gestellt haben.«
    »Das ist nichts Neues, Frau Kollegin.« Treidler suchte sich eines der hinteren Pissoirs aus.
    »Daneben gab es aber auch Abteilungen, die für andere Aufgaben zuständig waren.« Ihre Worte hallten zwischen den gefliesten Wänden.
    Er konnte es nicht glauben. Sie folgte ihm doch tatsächlich bis auf die Männertoilette, um ihn über die Arbeit der Stasi aufzuklären.
    Schon allein wegen ihrer Anwesenheit im Vorraum dauerte es eine Weile, bis er sich endlich erleichtern konnte. Schließlich klappte es doch.
    »Für was zum Beispiel?«, fragte Treidler, als der Druck auf seine Blase nachließ. Er interessierte sich nicht wirklich für ihre Antwort, sondern starrte auf die weißen Wandfliesen, auf der sich ein paar Scherzbolde mit bunten Filzstiften verewigt hatten.
    »Zum Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsorganen und der Volkspolizei«, hörte er ihre angriffslustige Stimme.
    Treidler stieß einen Laut des Unmutes aus. »Lassen Sie mich raten. Dort hat Ihr Vater gearbeitet.« Da schwang mehr Zynismus in seiner Feststellung mit, als er durchscheinen lassen wollte.
    »Vergessen Sie es, okay?« Inzwischen klang sie geradezu feindselig. »Sie wollen gar nicht verstehen.«
    Treidler verkniff sich die Antwort darauf. Vermutlich war er eh schon zu weit gegangen, und Melchior würde ihn den Rest des Tages mit Missachtung strafen. Warum auch nicht? Sollte sie doch. So hatte er wenigstens den restlichen Tag Ruhe.
    Als er den Vorraum der Toilette wieder betrat, lehnte Melchior mit verschränkten Armen an der Tür und versperrte den Ausgang. Es sah nicht so aus, als ob sie ihn vorbeilassen würde, ohne dass er sich erneut dieser überflüssigen Diskussion stellte.
    »Wussten Sie eigentlich, dass Pandabären Handstand machen, wenn sie pinkeln?« Es sollte ein Scherz sein.
    Ohne mit der Wimper zu zucken entgegnete Melchior: »Nein, wusste ich nicht, Treidler.«
    »Sehen Sie, aber ich …« Er grinste zurück.
    Melchior seufzte. »Okay, Kollege. Vergessen wir unsere Streitereien. Die von gerade eben und am besten auch die von heute Morgen, einverstanden?«
    Er zögerte, dann hielt er ihr die Hand entgegen. »Einverstanden.«
    Melchior schaute Treidler kurz in die Augen und ließ ihren Blick auf der angebotenen Hand ruhen.
    »Was ist?«, fragte er, nun ehrlich verwirrt.
    »Waschen Sie sich zuerst die Hände.«
    »Hab ich.«
    »Nein, haben Sie nicht.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Ich hab’s gesehen. Die Waschbecken sind auf dieser Seite.«

ACHT
    Als sich deine Eltern scheiden lassen, bist du neun Jahre alt. Deine kleine Schwester kann seit ein paar Wochen krabbeln. Von einem Augenblick auf den anderen bricht deine junge Welt zusammen. Obwohl dein Vater schon zuvor nie für dich da war, existiert plötzlich keine Familie mehr. Nie hast du darüber nachgedacht, dass es ganz ohne ihn noch schlimmer sein könnte als mit ihm. Jetzt erst bemerkst du, wie sich dein Leben verändert. Schnell und unbarmherzig. Die Mutter hat kaum noch Geld, und bald bezieht ihr eine andere Wohnung. Viel kleiner und heruntergekommener als die alte. Heute weißt du, dass der Wohnblock im schäbigsten Viertel der Stadt liegt. Die Wohnung im achten Stock verfügt über lediglich zwei Zimmer. Während das Wohnzimmer zugleich deiner Mutter als Schlafzimmer dient, werden du und deine Schwester im anderen Raum untergebracht. Dort gibt es kaum genug Fläche, um die beiden Betten zu stellen, und so findet das Gitterbett deiner Schwester nur noch direkt unter dem Fenster Platz.
    Du bist viel mit dem krabbelnden Quälgeist allein. Nachmittags, wenn deine Mutter arbeiten geht. Meist kommt sie dann erst spät abends nach Hause, wenn du schon eingeschlafen bist. Und falls sie doch Zeit hat, musst du erkennen, dass sie Unterschiede bei ihren Kindern macht. Der Junge mit der Engelsstimme, der noch immer mit den Klosterspatzen die Menschen verzückt, ist plötzlich weniger wert als das kleine Mädchen, das nicht einmal richtig laufen kann. Du denkst oft darüber nach, warum das so ist. Doch eine Erklärung findest du nicht.
    Bald bist du wütend auf deine Mutter, weil sie diesen Quälgeist

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