Schwarzer Neckar
verkneifen.
»Dort auf der linken Seite lagern in den Kartons die ganz alten Register. Seit sechzehnhundert- oder siebzehnhundert-irgendwas. Das sind die frühesten Eintragungen, die wir haben. Die nächste Regalreihe beginnt mit dem Jahr 1800 oder später. So genau weiß das niemand hier. Das zwanzigste Jahrhundert sollte in der vierten Regalreihe, etwa im hinteren Drittel, beginnen. Vielleicht starten Sie dort mit Ihrer Suche. Erst ab dem Jahr 1960 werden die Register oben aufbewahrt.«
Treidler wechselte einen raschen Blick mit Melchior. Er konnte im ersten Moment nicht glauben, was die gute Frau Markwart mit den kirschroten Lippen in einem kleinen Nebensatz erwähnt hatte: Sollten sie selbst in diesem verfluchten Keller nach den Registerauszügen suchen?
»Was ist?«, fragte Markwart mit einem unschuldigen Blick. »Ich muss nach oben. Das Bürgerbüro darf nicht unbesetzt sein.«
Im Gegensatz zu ihr war sich Treidler sicher, dass es niemandem auffiel, wenn der Zettel an der Tür des Bürgerbüros noch ein paar Minuten länger hing. Doch er behielt seine Meinung für sich und beließ es bei einem eisigen Blick.
»Sie können auch eine Anfrage auf dem offiziellen Amtsweg stellen«, sagte Markwart säuerlich, als ob sie Treidlers unausgesprochenen Vorwurf erraten hätte. »Anfragen bearbeite ich, sobald wir genügend Zeit haben. Nach den Weihnachtsferien.«
Treidler konnte sich nicht vorstellen, dass fehlende Zeit im Rathaus von Florheim ein größeres Problem darstellte. Aber falls sie heute noch die Geburtsregister des Dorfes einsehen wollten, mussten sie selbst Hand anlegen. Ergeben hob er die Augenbrauen und nickte Melchior zu.
Als ob Markwart nur darauf gewartet hatte, trat sie auf den Gang und ließ die Tür von außen in das Schloss fallen. Fast schien es, als ob durch die geschlossene Tür die Raumtemperatur noch weiter sank. In ihrer Lederjacke zitterte Melchior am ganzen Körper. Sie schloss die Knopfreihe bis hoch zum Kragen und schüttelte sich. Treidler sah die weißen Wölkchen, wenn sie ausatmete. Auch er bekam allmählich klamme Hände und versuchte, sie mit seinem Atem zu wärmen.
»Verdammte Kälte.« Melchior machte sich daran, die Pappkartons in den Regalreihen zu begutachten.
Er folgte ihr widerwillig. Spätestens jetzt bereute er, Melchior in das Rathaus nach Florheim begleitet zu haben.
Gegen alle Erwartung fanden sie schnell die Stelle, an der die Registerauszüge des zwanzigsten Jahrhunderts aufbewahrt wurden. Das Ablagesystem war leicht zu durchschauen. Jedes Jahr bestand aus einer bestimmten Anzahl von Kartons. Zwar fehlten Etiketten, allerdings standen die Kartons innerhalb eines Regalfaches chronologisch sortiert. In ihnen wiederum stapelten sich die Aktenhefter der einzelnen Monate, beginnend mit dem Januar. Manche Monate umfassten mehrere Hefter, für andere waren gar keine Hefter angelegt worden. Treidler nahm an, dass es zu diesen Monaten keine Änderungen in den Registern des Standesamtes gegeben hatte. Neben den chronologischen Eintragungen lagerten in den Regalen einige mit › STAMM ‹ gekennzeichnete Kartons. Sie enthielten die Stammrollen der Personen, die im jeweiligen Jahr geboren worden waren. Und um die zugehörige Stammrolle zu finden, benötigten sie lediglich die Ranglistennummer aus dem Geburtsregister.
Melchior fand den Karton für das Jahr 1923 und arbeitete sich bis zum Dezember vor. Sie zog die entsprechende Mappe heraus und hielt sie triumphierend hoch.
Jede der Registerseiten bestand aus vier Abschnitten. Jeweils einer für Geburt, Taufe, Heirat und Tod. Für den zwölften Tag des Monats gab es in der Abteilung für Geburten nur einen Vermerk, der in altdeutscher Schrift verfasst war. Sie benötigten etwas länger, um die verschlungenen Buchstaben zu entziffern:
Johann Eugen Novak, in Florheim
Rangliste: 127/1923
Sohn des Eugen Friedrich Novak, geb. 13. März 1898 in
Florheim, Bauer und Metzger, katholischen Glaubens
Rangliste: 47/1898
Sohn der Martha Hedwig Novak, geb. am 3. Mai 1902 in
Florheim als Martha Hedwig Rottler, Hausfrau,
katholischen Glaubens
Rangliste: 66/1902
Die Angaben in Novaks tadschikischer Propiska schienen also zumindest in Bezug auf Geburtstag und -ort mit den deutschen Registereintragungen übereinzustimmen. Der Tote mit dem sowjetischen Inlandspass war im Dezember 1923 in Florheim geboren.
Treidler stieß einen leisen Pfiff aus und notierte sich Johann Novaks Ranglistennummer und die seiner Eltern. Er legte die Mappe
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