Schwarzer Regen
geklaut hatten, hatte er nur ein paar Fotos gemacht und sie den Eltern der Kids in die Briefkästen gesteckt. Am nächsten Tag hatte der alte Herr seine Geldbörse zurück. Der Drogendealer, der sich hier eine Zeitlang herumgetrieben hatte, war nach einem anonymen Hinweis von Lennard von der Polizei aufgegriffen worden. Der Familie Czerny, deren einziger Verdiener vor einem Jahr arbeitslos geworden war und die nicht wussten, wie sie ihre Schulden bezahlten sollten, schob er regelmäßig fünfzig Euro in einem Umschlag unter der Tür durch, sobald er wusste, dass niemand zu Hause war.
Er hatte auch das Jugendamt darüber informiert, dass in der Eckwohnung im siebten Stock die beiden drei- und vierjährigen Kinder vernachlässigt wurden und oft den ganzen Tag unbeaufsichtigt in der Wohnung waren, während die Mutter arbeiten ging. Es war ihm schwergefallen, sie anzuschwärzen, und er hatte sich schlimm gefühlt, als er |111| zugesehen hatte, wie sie eines Tages mit ihren Kindern von der Polizei abgeholt worden und später allein und tränenüberströmt nach Hause gekommen war. Doch er wusste, er hatte damit nur Schlimmeres verhindert.
Was Lennard getan hatte, war nicht illegal. Im Gegenteil, er war wie jeder Bürger dazu verpflichtet, Gesetzesverstöße zu melden, wenn er sie sah. Zivilcourage wurde das in den Informationsbroschüren genannt. Doch er wusste nur zu gut, dass die meisten Menschen ihn dafür verabscheuen würden. Es gehörte sich einfach nicht, in anderer Leute Leben rumzuschnüffeln. Es ging ihn nichts an, was seine Nachbarn machten.
Er hatte sich eingebildet, den Menschen helfen und sie beschützen zu können, im Verborgenen gegen die Ungerechtigkeiten des täglichen Lebens ankämpfen zu müssen wie ein Guerillakrieger in einem vom Feind besetzten Land. Doch die Begegnung mit dem Pärchen in der Tiefgarage hatte ihm endgültig vor Augen geführt, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Niemand wollte das, was er tat, und vermutlich brauchte es auch niemand. Er musste endlich einsehen, dass er kein Polizist mehr war.
Es war besser, wenn er irgendwo anders ganz neu anfing. Irgendwo, wo er nicht mehr zufällig Fabienne Berger auf dem Flur oder im Supermarkt begegnen konnte, wo er nicht erleben musste, wie sie peinlich berührt ihren Blick abwandte. Vielleicht sollte er bei der Gelegenheit auch seinen Job wechseln. Er war nicht mehr der Jüngste, aber er konnte immer noch im Objekt-, vielleicht sogar im Personenschutz arbeiten. Er würde weniger verdienen, aber wenigstens würde er nicht mehr anderer Leute Leben zerstören müssen.
Bei einem Internetportal hatte er mindestens ein Dutzend geeignete Wohnungen gefunden – schöne, elegante Apartments in freundlichen Vierteln wie Winterhude, |112| Eimsbüttel oder Rahlstedt, die er sich ohne weiteres leisten konnte, die viel mehr hermachten als dieses armselige Loch hier. Doch bis jetzt hatte er es nicht über sich gebracht, einen konkreten Schritt zu tun.
Schließlich stand er auf und sah aus dem Fenster, und plötzlich wusste er, dass er diesen riesigen, hässlichen Wohnblock liebte. Natürlich nicht das Haus selbst, aber seine Bewohner. Er kannte sie alle. Sie waren wie Freunde für ihn, auch wenn sie nichts davon wussten. Er wollte hier nicht weg.
Er sah Kinder, die an diesem herrlichen Juninachmittag auf dem Spielplatz herumtollten. Er sah die Witwe Herck, die auf ihrem Balkon saß und strickte, und die alte Zengeler, die wieder mal ein Wort in ihrem Rätsel nicht wusste und sich verbissen weigerte, die Kästchen leer zu lassen, den Bleistift an die Lippen gedrückt, die Augen konzentriert auf das Papier gerichtet. Er sah …
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|113| t0
|115| … wie sie plötzlich von ihrem Rätselheft aufblickt und sich verwirrt umsieht. Sie steht auf, verschwindet aus seinem Blickfeld. Vielleicht hat ihr Telefon geklingelt, obwohl Lennard bisher noch nie beobachtet hat, dass sie einen Anruf bekam.
Nach kurzer Zeit erscheint sie wieder am Fenster, doch sie beachtet ihr Rätselheft nicht. Stattdessen sieht sie hinaus, als suche sie etwas. Merkwürdig.
Die Kinder spielen immer noch fröhlich, während ihre Mütter auf den Bänken sitzen und sich unterhalten. Eine Gruppe von Jugendlichen mit einer Aldi-Tüte und einem Ghettoblaster kommt um die Ecke. Unter den misstrauischen Augen der Mütter setzen sie sich nicht weit von dem Spielplatz entfernt ins Gras. Einer von ihnen, ein hochgewachsener, schlaksiger Teenager mit blondem Stoppelhaar, schaltet den
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