Schwarzer Regen
und wieder gab es ein Modell oder irgendeinen Apparat, an dem man ein paar Knöpfe drücken und damit Lämpchen zum Leuchten oder Anzeigeinstrumente zum Ausschlagen bringen konnte. Das Ganze war so aufregend wie der Physikunterricht in der achten Klasse.
Verzweifelt sah Faller auf die Uhr. Kurz vor fünf. Sie war erst eine halbe Stunde hier – sie konnte noch nicht gehen, |108| ohne den dicken Pressesprecher zu verärgern. Außerdem ging ihr Flieger zurück nach Hamburg erst um zwanzig vor neun. Sie seufzte leise. Dafür, dass er ihr das hier antat, würde Dirk Braun teuer bezahlen!
Der Dicke führte sie zu einem merkwürdigen flachen Tisch hinter ein paar Stellwänden, in dem eine graue Masse brodelte. Ein bisschen sah es so aus wie sehr dichter Zigarettenqualm unter einer Glasplatte. Seltsame leuchtende Spuren blitzten darin auf, wie Fische, die kurz an die Oberfläche schwammen und dann wieder abtauchten.
»Was ist das?«
»Das ist eine Nebelkammer«, erklärte der Dicke. Seine Stimme bebte fast vor Stolz, als Faller zum ersten Mal seit ihrem Besuch so etwas wie Interesse erkennen ließ. »Die Leuchtspuren, die Sie da sehen, sind von Elementarteilchen verursacht. Sie prallen auf die Moleküle des Ethanoldampfs in der Kammer, ionisieren diese und hinterlassen dabei charakteristische Kondensationsspuren. Diese wurmartigen, etwas krummen Gebilde sind Alphateilchen, also Helium-4-Kerne aus zwei Protonen und zwei Neutronen. Das da, diese länglichen Spuren, sind Neutronen. Und die ganz geraden dünnen Linien, die nur selten erscheinen, sind von Gammaquanten verursacht.«
Gegen ihren Willen war Faller beeindruckt. Sie verstand zwar nicht viel von Physik, doch sie wusste, dass diese Teilchen viel zu winzig waren, um sie auch nur unter dem stärksten Mikroskop zu erkennen. Dass man sie in diesem simplen Tisch mit bloßem Auge erkennen konnte, fand sie interessant, aber auch ein bisschen unheimlich. »Heißt das, diese Dinger fliegen hier die ganze Zeit um uns herum?«, erkundigte sie sich etwas verunsichert. Sie wusste, dass hier im Forschungszentrum immer noch Experimente mit radioaktivem Material gemacht wurden.
Der Dicke lächelte milde. »Selbstverständlich! Sie fliegen |109| nicht nur um uns herum, sondern mitten durch uns hindurch, besonders die Gammaquanten. Die kennen Sie ja aus Röntgengeräten. Die Nebelkammer zeigt nur einen winzigen Bruchteil der Teilchen, die tatsächlich gerade unterwegs sind. Permanent prasselt ein Regen von ihnen aus dem Weltraum auf die Erde herab. Kosmische Strahlung nennt man das. Das meiste wird schon in der Ozonschicht absorbiert, deswegen ist die ja so wichtig für uns, aber ein Teil schafft es bis auf die Oberfläche. Manche von ihnen erzeugen dann Wechselwirkungen mit anderen Teilchen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ein Gammaquant trifft auf ein Atom auf ihrer Haut. Dann kann es sein, dass ein Molekül auseinandergesprengt wird, vielleicht sogar ein Teil der DNS Ihrer Zelle, und dann bekommen Sie womöglich Hautkrebs.«
Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck und beeilte sich hinzuzufügen, dass das natürlich höchst unwahrscheinlich sei. »Viel wahrscheinlicher ist es, dass ein harmloses Wassermolekül aufgespalten wird und seine Bestandteile durch die Gegend fliegen. Und manchmal löst sich eben ein einzelnes Proton oder Neutron. Sehr weit kommen die nicht, weil sie viel größer sind als zum Beispiel Elektronen und sehr schnell irgendwo gegen knallen.« Er demonstrierte das, indem er eine Faust in seine fette Hand krachen ließ. »Aber machen Sie sich keine Gedanken. Das ist völlig ungefährlich! Die Energie eines einzelnen Teilchens ist so gering, dass sie Milliarden davon bräuchten, um die Glühbirne einer Taschenlampe zum Leuchten zu bringen. Sie merken davon also nichts, und nur mit dieser Nebelkammer kann man überhaupt feststellen, dass …«
|110| 20.
Am späten Nachmittag saß Lennard vor dem Computer. Er dachte ernsthaft daran, sich eine neue Wohnung zu suchen. Vielleicht war es an der Zeit, die Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Dieses heimliche Beobachten fremder Menschen musste aufhören, das hatte ihm die Begegnung mit Fabienne Berger deutlich gemacht.
Eine Zeitlang hatte er gedacht, über die Menschen in diesem Wohnblock wachen zu können. Er hatte den Schutzengel gespielt. Als er beobachtete, wie ein paar Halbstarke dem gehbehinderten Herrn Kranz aus dem dritten Stock das Portemonnaie aus der Manteltasche
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