Schwarzer Regen
Hitze. Die Schreie. Die brennenden Menschen.
Tanaka versucht zu weinen, doch seine Augen sind ausgetrocknet. Es ist wieder passiert. Der Alptraum, der ihn ein Leben lang verfolgt hat, ist zurückgekehrt.
Seltsam, es ist fast eine Erleichterung. So lange schon hat er diese würgende Angst mit sich herumgetragen. Tief in seinem Inneren hat er immer gewusst, es würde noch einmal geschehen. Doch jetzt, wo das eingetreten ist, vor dem er sich am meisten fürchtete, empfindet er es wie eine Befreiung. Jetzt muss er keine Angst mehr haben. Es ist vorbei.
Er muss jetzt stark sein. So stark wie damals, als seine Mutter ihm seinen kleinen Bruder anvertraute. Er hat sich geweigert, sie inständig gebeten, mit ihm zu kommen, ihn |128| wegzuführen aus der Hölle. Er hat getobt, geschrien, gefleht. Doch sie hat dort gelegen, eingeklemmt unter den Trümmern des Hauses, und ihn mit ihren milden, klaren Augen angesehen. »Kümmere dich um Omo. Ich kann nicht mit dir kommen. Du musst jetzt stark sein, Kenichi! Stark und tapfer wie dein Vater!«
Sein Vater hatte als Kamikazepilot beim Angriff auf Pearl Harbor den Heldentot gefunden. Erst viel später erkannte Tanaka den Wahnsinn dieser Tat.
Er löst sich zögerlich von der Mauer, die ihm das Leben gerettet hat. Es ist stockfinster geworden, genau wie damals. Bald wird der schwarze Regen fallen.
Er versteht nicht genau, weshalb er noch lebt. Vielleicht hat er noch eine Aufgabe zu erfüllen.
Langsam wankt er in die Richtung, in die der Sturm Trümmer, Autos und Menschen geschleudert hat – fort vom Epizentrum.
Er sieht einen Körper, der halb unter einem abgerissenen Blech verborgen liegt. Es ist der junge Chinese. Er muss mehrere Meter durch die Luft geschleudert worden sein.
Tanaka hat Chinesen noch nie leiden können. Sie sind dumm und faul, und sie stinken. Dennoch sind sie Menschen.
Er beugt sich hinab. Das große Blech, vermutlich ein Verkehrsschild, hat vielleicht größere Schäden von dem Mann abgehalten.
Er nimmt ein schwaches Stöhnen wahr. Der Chinese lebt!
Er denkt an seine Tochter und seine beiden Enkelsöhne. Er macht sich nichts vor. Das Taxi fuhr zu ihrer Wohnung, in die Richtung des Zentrums der Explosion. Sie sind alle tot, und dieser Chinese hat überlebt. Es ist nicht gerecht.
Tanaka überwindet seinen Zorn und seine Abscheu. Er geht in die Hocke, greift unter die Achseln des Mannes. Es |129| gelingt ihm, den Körper unter dem Schild hervorzuziehen. Der Mann ist immer noch bewusstlos, seine Kleidung angesengt, und Brandblasen bedecken jeden Zentimeter ungeschützter Haut. Der süßliche Geruch von gegrilltem Fleisch lässt Tanakas Magen revoltieren, doch er kämpft die Übelkeit nieder.
Er rollt den Körper des jungen Mannes in seine Arme, legt ihn sich über seine rechte Schulter wie einen Sack Süßkartoffeln und versucht aufzustehen. Seine Knie drohen unter der Belastung wegzuknicken, doch er lässt nicht zu, dass sein Körper ihm den Dienst verweigert. Schließlich gelingt es ihm, sich aufzurichten.
Er wankt durch die brennenden Straßen, ohne auf seine eigenen Schmerzen zu achten. Er wird diesen unbekannten Chinesen in Sicherheit bringen, so wie er es damals mit Omo gemacht hat, und wenn es das Letzte ist, das er tut in dieser Welt.
|130| 26.
Ein grelles Licht erhellt den Himmel, lässt die Gebäude vor Martina Walter in hartem, schwarzem Kontrast erscheinen. Es ist so intensiv, dass sie nicht einmal mehr erkennen kann, ob die Ampel noch rot ist. Was zum Kuckuck ist das jetzt wieder? Sie will aussteigen, doch bevor sie auch nur die Hand nach dem Türgriff ausstrecken kann, sieht sie vor sich Autos durch die Luft fliegen wie Laub vor einem Gebläse. Im selben Moment trifft sie ein gewaltiger Schlag. Die Frontscheibe zersplittert und überschüttet sie mit glitzernden Glassteinchen. Ohne zu begreifen, was geschieht, sieht sie plötzlich von oben auf die Straße herab. Dann explodiert der Tank, und sie wird von einem Feuerball umhüllt. »Ben …«, will sie rufen, doch die Druckwelle presst ihre Lungen zusammen, und kein Wort kommt über ihre Lippen.
|131| 27.
Ein Gleißen erhellt den Raum. Willi schreit erschrocken auf und hält eine Hand vors Gesicht. Eine Blendgranate, schießt es Ben durch den Kopf. Die Bullen setzen so was ein, wenn sie Wohnungen erstürmen, das hat er in einem Krimi gesehen. Aber warum …
Ein Knall durchdringt Bens ganzen Körper. Das Fenster explodiert. Glasscherben schießen durch den Raum. Nur eine Zehntelsekunde
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