Schwarzer Regen
Realität zeigten und kein Computertrick waren. Und dachte dabei an Ben.
Natürlich hatte er bereits ein Dutzend Mal versucht, Martina zu erreichen. Seit fast zehn Jahren hatte er nicht mit ihr gesprochen. Jahrelang hatte er sich scheinbar nicht um seinen Sohn geschert. In Wahrheit hatte er jeden Tag an Ben gedacht, sich mit der Vorstellung getröstet, dass er in einer intakten, glücklichen Familie aufwuchs. Sicher hatte Ben längst vergessen, dass es da noch einen anderen Vater gegeben hatte. Einen Vater, der ihn in Ruhe ließ, um ihm und sich selbst die Qual eines ständigen Hin- und Hergerissenseins zu ersparen.
Vielleicht war es Ben zu Anfang schwergefallen, aber bestimmt hatte er sich schnell an die veränderte Situation gewöhnt, wie Kinder sich nun mal an alles Neue gewöhnen. Lennard wusste, es wäre für seine Entwicklung schädlich gewesen, ihn ständig mit der Situation der Scheidung zu konfrontieren. Es war besser gewesen, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen, den Kontakt abzubrechen. Besser, und irgendwie auch leichter.
Trotzdem lastete das Gefühl des Versagens schwer auf |152| ihm, als er in seiner Lethargie vor dem Fernseher saß. Als habe er seinen Sohn in der Not im Stich gelassen. Als sei er schuld, dass Ben mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in Ettlingen lebte, nur wenige Kilometer vom Zentrum der Katastrophe entfernt, und nicht hier in Hamburg, in Sicherheit.
Wahrscheinlich war ihnen nichts passiert. Vermutlich waren nur die Fensterscheiben zerbrochen, vielleicht hatte die Druckwelle ein paar Dachziegel gelöst. Sicher war Ben zu weit vom Zentrum entfernt gewesen, um ernsthaft verletzt zu werden, versuchte Lennard sich zu beruhigen. Doch die Unsicherheit trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Zum fünfzigsten Mal stand er auf, wählte Martinas Festnetznummer, hörte das Besetztzeichen, legte frustriert auf.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er würde noch den Verstand verlieren, wenn er weiter hier rumsaß. Er musste Gewissheit haben, dass es seinem Sohn gutging. Alles andere war unwichtig. Er nahm den Autoschlüssel und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage der Wohnanlage.
Zwischen Hamburg und Hannover hielt er an jeder Autobahnraststätte und wartete geduldig in der Schlange vor der Telefonzelle, doch es gab immer noch kein Durchkommen. Die Behörden hatten eine Informationshotline eingerichtet, die aber ebenfalls dauernd besetzt war.
Um kurz nach zehn funktionierte das Handynetz wieder. Eine Ansage informierte ihn, dass das Telefonnetz in und um Karlsruhe weiter gestört war.
Kurz vor Dortmund kam er in den ersten großen Stau. Der Verkehrsfunk teilte mit, dass die Autobahnen im südlichen Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg überlastet waren. Der gesamte Flug- und Fernbahnverkehr war bis auf weiteres ausgesetzt. Man solle bitte zu Hause bleiben und weitere Nachrichten abwarten. |153| Anschließend folgte eine Ansprache des Bundeskanzlers.
Lennard schaltete das Radio aus. Während er im Schritttempo durch die Nacht rollte, musste er immer wieder an die glücklichen Tage denken, ein anderes Leben, das so fern war, als habe er es gar nicht selbst erlebt, sondern nur im Fernsehen gesehen. Dieses Leben war ihm ganz normal, fast langweilig vorgekommen. Er hatte Karriere gemacht, war zum jüngsten Hauptkommissar in Hamburg befördert worden. Er hatte viel gearbeitet, oft auch an den Wochenenden. Er hatte mit Ben im Garten Fußball gespielt, in einem Tümpel im Sachsenwald Molche gefangen, in Hagenbecks Tierpark Elefanten gefüttert. Er hatte ihn aufgefangen, als Ben nach den ersten tapsigen Schritten hinzufallen drohte. Er hatte ihm ein Pflaster aufs Knie geklebt, als er mit dem Fahrrad gestürzt war, und seine Kindertränen getrocknet. Er hatte ihm bei seinen ersten Hausaufgaben geholfen.
Das wirklich Schlimme aber war, dass er die ganze Zeit über nicht begriffen hatte, wie glücklich er gewesen war. Es tat so unendlich weh, daran zu denken.
Doch sein eigener Schmerz war jetzt nicht wichtig, solange es Ben nur gutging.
|154| 33.
Ben lag auf einem Feldbett in einem provisorischen Zeltlager. Man hatte ihn in einer mit Plastik ausgekleideten Zelle mit Chemikalien abgeduscht, seine Kleidung entsorgt und ihm einen hellgrünen Kittel gegeben. Er musste eine ekelhafte glibberige Flüssigkeit trinken, woraufhin er sich mehrmals übergab und Durchfall bekam. Er hatte Tabletten bekommen und eine Spritze.
Insgesamt hatte er den Eindruck, dass
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