Schwarzer Regen
es ihm besser ging als den meisten hier im Lager. Doch die Blicke, die Ärzte und Pfleger ihm zuwarfen, waren ernst und mitleidsvoll. Immer wieder musste er an die Frage des Arztes im Hubschrauber denken: Haben Sie von dem schwarzen Regen getrunken?
Er wusste inzwischen, dass er radioaktiv kontaminiert worden war. Selbst wenn man es ihm nicht gesagt hätte, es wäre ihm aufgrund der Art, wie man ihn und seine verseuchte Kleidung behandelte, klar gewesen. Doch er weigerte sich zu glauben, dass das Problem ernst war. Nach Tschernobyl waren viele Menschen an der Strahlenkrankheit gestorben. Aber heute konnte man so etwas doch besser bekämpfen, oder? Schließlich lebte er nicht in der Ukraine, sondern in Deutschland mit seiner hochentwickelten medizinischen Infrastruktur! Und er fühlte sich wohl. Ein bisschen übel vielleicht, aber das war nur normal nach dem, was er gesehen hatte, oder?
Tränen traten ihm in die Augen. Er wollte nicht sterben, verdammt, nicht in so einem anonymen Massenlager. Er hatte doch großes Glück gehabt, der Einzige zu sein, der mit heiler Haut aus dem Polizeihauptquartier entkommen |155| war. Er hatte sich bis zu dem Hubschrauber durchgeschlagen, sogar einen kleinen Jungen gerettet. Es wäre albern, wenn sich jetzt herausstellte, dass er tödlich vergiftet war, nur weil er ahnungslos ein paar Tropfen schwarzen Regens geschluckt hatte. Albern und ungerecht!
Sterben, nein, das kam nicht in Frage. Das würden die Ärzte nicht zulassen.
Die Übelkeit wurde stärker. Er übergab sich in den bereitstehenden Eimer. Sein Magen war leer, er würgte nur etwas Speichel und Magensäure hervor. Und Blut.
Eine junge Frau tauschte wortlos den Eimer gegen einen leeren aus.
»Bitte, warten Sie!«, rief Ben. »Werde ich sterben? Bitte, sagen Sie es mir!«
Die Frau zuckte nur mit den Schultern. Sie blinzelte eine Träne beiseite und wandte sich um. Es gab so viele Menschen zu versorgen. Menschen, die vor Schmerzen stöhnten oder schrien. Kinder, deren Haut so versengt war, dass sie von Kopf bis Fuß einbandagiert waren wie kleine Mumien. Schwangere, denen man in Notoperationen die Babys aus dem Bauch holte, um wenigstens ihr kleines Leben zu retten. So viel Leid, so viel Elend. Was bedeutete da schon etwas erbrochenes Blut?
Halb vor Angst, halb vor Kälte zitternd, lag Ben auf seiner Trage und dachte an seine Mutter. Wo blieb sie? Warum holte sie ihn nicht ab von diesem schrecklichen Ort, an dem sein Schicksal besiegelt schien? Warum kam nicht sein Vater, um ihm nach all den Jahren endlich beizustehen?
Er fürchtete sich davor einzuschlafen – zu schlafen und nicht mehr zu erwachen. Doch irgendwann überwältigte ihn die Erschöpfung.
|156| 34.
Der Bundeskanzler war nie eine Schönheit gewesen, aber er hatte immer eine gewisse würdevolle Autorität ausgestrahlt. Jetzt wirkte er nur noch müde und sehr alt.
»Meine Damen und Herren, ich habe die traurige Pflicht, Sie von einer schrecklichen Katastrophe zu unterrichten, die über unser Land hereingebrochen ist«, begann er. Seine Stimme klang brüchig. Die enorme Anspannung, unter der er stand, war ihm deutlich anzumerken.
Fabienne stellte den Fernseher lauter.
»Sie alle haben die grauenvollen Bilder gesehen. Es ist noch zu früh, um die genaue Ursache zu ermitteln. Aber meine wissenschaftlichen Berater haben mir versichert, dass die Umstände nur eine Schlussfolgerung zulassen: Große Teile der Stadt Karlsruhe sind durch einen Terroranschlag mit einem nuklearen Sprengsatz zerstört worden. Wir kennen die Zahl der Opfer noch nicht, aber es sind mit Sicherheit Zehntausende, wenn nicht gar Hunderttausende.« Er schluckte, schwieg einen Moment und kniff die Augen zusammen, als kämpfe er mit den Tränen.
»Mein … unser aller Mitgefühl gilt den Opfern und ihren Angehörigen. Meinen Dank, den Dank der Bundesregierung und der ganzen Nation richte ich an die vielen Rettungskräfte, die unter kaum vorstellbaren Bedingungen und unter erheblichem persönlichen Risiko ihr Bestes geben, um die Folgen dieses schrecklichen Ereignisses zu bekämpfen.«
Er holte tief Luft. »Die Bundesregierung wird alles tun, um mit den Mitteln unseres Rechtsstaats die Schuldigen für diesen feigen Anschlag zu finden und zu bestrafen. |157| Bereits jetzt laufen die Ermittlungen in Zusammenarbeit mit unseren Bündnispartnern auf Hochtouren. Ich habe den Finanzminister gebeten, eine Milliarde Euro für Soforthilfen und Wiederaufbaumaßnahmen bereitzustellen. Doch ich bin mir
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